Tokio Total - Mein Leben als Langnase
ich.
Statt einer Antwort ging Kenji zum Bonautomaten, zog eine Marke für ein rohes Ei und reichte sie der Bedienung.
»Ist das auch sicher?«, fragte ich.
Kenji verstand die Frage nicht. Ich erklärte ihm, dass wir rohe Eier in Deutschland wie Gift behandeln.
»Irgendwie wird mir dieses Deutschland immer unheimlicher. In Japan kann man alle Hühnereier essen.«
Doch auch hinter dem peniblen Umgang mit Nahrungsmitteln in Japan verbirgt sich eine dunkle Seite.
Japan sieht sich selbst als sparsame Nation. Es gilt seit alters her als schlechtes Benehmen, seinen Reis nicht aufzuessen. Für jedes Korn, das übrig bleibt, »sterben zehntausend Buddhas«, schärfen die Eltern ihren Kindern ein. Wenn das stimmt, dann sterben jeden Tag Milliarden von Buddhas. Die Japaner werfen mehr und mehr weg.
Die 24-Stunden-Läden und Restaurants in Tokio entsorgen jeden Tag 6000 Tonnen Lebensmittel. Angenommen, ein Mensch benötigt täglich etwa ein Kilogramm Nahrung, dann könnten davon sechs Millionen Menschen leben. So viel Essen geht in Tokio täglich in den Müll oder ins Recycling. Als Öffentlichkeit und Politik darauf aufmerksam wurden, bauten die Supermärkte eine eigene Wiederverwertungskette auf. Die Essensboxen aus den Convenience Stores kommen jetzt zu Recyclingfirmen, die
den Inhalt in Maschinen entleeren und daraus Tierfutter pressen.
Ein Entsorgungsfachmann in so einer Anlage, ein Mann Anfang dreißig mit Blaumann über dem weißen Hemd, zeigte mir einen gerade hereinkommenden Container: bis oben hin vollgestapelt mit Bento-Kästchen. Aus diesen flachen Behältnissen ernähren sich die Japaner. Unter dem transparenten Deckel liegt typischerweise Reis mit gegrilltem Fisch, Sushi oder Fleischbällchen. Der Recycling-Mann nahm die oberste Packung heraus. »Hier, das Haltbarkeitsdatum ist erst vor wenigen Minuten abgelaufen«, sagte er, öffnete den Deckel und steckte sich mit der bloßen Hand ein Reisbällchen in den Mund. »Das Zeug schmeckt natürlich noch tadellos.«
Die Japaner verschwenden aus Perfektionismus so viel. Die Kunden der Läden und Restaurants reagieren bei der Frische ihrer Lebensmittel übertrieben empfindlich. Die 24-Stunden-Läden trauen sich nicht, Waren in der Nähe der Ablaufminute im Kühlregal liegen zu lassen. Marktpächter der Kette Seven Eleven hatten es schade gefunden, jeden Tag so viel gutes Essen ins Recycling zu geben, und boten die Bento-Packungen verbilligt an. Die Kunden fanden das gut und griffen zu, doch die Konzernzentrale verbot den Filialleitern diese Praxis. Sie wollte verhindern, dass der Eindruck entsteht, bei Seven Eleven sei nicht immer alles perfekt frisch.
Auch in Izakayas bleibt einiges übrig. Zu viel zu bestellen gehört für Geschäftsleute zum guten Ton. Der Witz daran: Japan jammert schon seit langem darüber, nur noch einen geringen Anteil der nötigen Lebensmittel im Inland
herstellen zu können. Bloß vier Zehntel des Essens kommen von japanischen Bauern, der Rest wird aus China, Australien oder Indonesien eingeführt. Eine absolute Hauptzutat kommt sogar fast ausschließlich aus Übersee: die Sojabohne, Grundlage für Tofu, Misosuppe, Nattô, Sojamilch, Fitnessriegel und viele andere Dinge, die Japan liebt. Nur mit Reis kann das Land sich selbst versorgen.
Das liegt auch an den gewandelten Vorlieben der Japa - ner. Wo in den Fünfzigerjahren Reis mit Chinakohl ausreichte, muss es heute ein Sandwich mit Roastbeef sein. Doch es fehlt der Platz für große Weizenfelder oder Rinderweiden. Nun liegt der Gedanke nahe, dass Japan nicht ganz so viel einführen müsste, wenn es nicht ganz so viel wegschmeißen würde.
Meiner Ansicht nach arbeitet die Wirtschaft in ihrem Frischewahn sogar gegen die Wünsche der normalen Japaner. Als ich Kenji auf die Lebensmittelverschwendung ansprach, nannte der sie einen Skandal. »Aber was soll ich daran ändern? Ich kann ja schlecht im Convenience Store nach Sachen kurz vor dem Haltbarkeitsdatum fragen.«
Beim Feiern ihrer religiösen Feste verhalten sich die Japaner besonders extrem: In Kenjis Wohnort Kawasaki trägt jedes Jahr eine entfesselte Menge die Heiligtümer des Kanayama-Schreins beim Phallusfest durch die Straßen. Der Schrein ist auf Prostitution und Fruchtbarkeit spezialisiert. Diese Kombination zieht ein sehr unterschiedliches Publikum an. Auf der einen Seite kommen zeugungswillige Ehepaare, auf der anderen Seite professionelle Frauen. Aufgrund der besonderen Form der heiligen Objekte des Schreins zieht das
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