Tokio Total - Mein Leben als Langnase
an vorderster Front der Mode im Gothic Look.
* Fräulein Shizuka Fujioka: Beraterin von
»CONOMi«, einem Händler für Kleidung im Stil von Schuluniformen.
Im Text waren die Herzchen genauso eingefügt, wie sie es in der Textnachricht einer Mittelschülerin wären. Bierernst präsentierte das Außenministerium den internationalen Journalisten in ihren grauen Anzügen die kichernden Lolita-Mädchen mit ihren ultrakurzen Röcken. Wundert es die Japaner bei dieser Auffassung von Diplomatie eigentlich, dass das Ausland sie besonders putzig findet?
Der Look ist alles in Japan. Jeden Morgen sehe ich junge Geschäftsleute, die vor den Spiegeln auf den U-Bahnsteigen sorgsam ihre komplizierte Frisur richten. In einer deutlich höheren Liga spielen jedoch die Jugendlichen, die sich möglichst auffällig kleiden, damit Modezeitschriften sie entdecken. Mit einem von ihnen bin ich ins Gespräch gekommen, habe ihm meine Visitenkarte gegeben und mir seine Modesammlung zu Hause zeigen lassen. Er besitzt unter anderem
150 Paar Schuhe, um die Fußbekleidung stets farblich mit seinen restlichen Klamotten abstimmen zu können. Hideji, 25 Jahre alt, stand groß gewachsen, aber sehr schmal, an der Ecke, wo Modejournalisten und »Snapshot-Fanatiker« sich treffen. Seine riesige schwarze Sonnenbrille bildete einen auffälligen Gegensatz zu seiner hellen Haut. Heute hatte er ein strahlend weißes Hemd an, bis zum Kinn zugeknöpft, und eine Hose, die ein bisschen aussah wie zwei schwarze Röcke, für jedes Bein einer. Die Zeitschriftenleute hatten ihn vorher schon ausgiebig fotografiert, sein Tagewerk war getan. Die Seiten dieser Magazine gleichen Fotoalben. Zu jedem Jungen gibt es einen Steckbrief mit Alter und Angabe der Marken und Kauforte seiner Kleidung.
Hideji wohnte auf etwa zwölf Quadratmetern, die Wände seines Zimmers waren bis oben hin mit Kleidung vollgestapelt. Er bewahrte auf der linken Seite 500 T-Shirts auf und auf der rechten Seite die 150 Paar Schuhe. Nachts schlief er auf einem Futon-Streifen, links bedrängt von Körben mit Accessoires, rechts von der Schuhwand.
Der Kühlschrank hatte auch nur die Größe eines Schuhkartons. »Darf ich mal reingucken?«, fragte ich. Na ja, viel sei nicht drin, sagt Hideji. Er esse nicht so viel. Seine Freundin habe mal gesagt, er solle zunehmen, aber bei den Fotografen hätten derzeit magersüchtige Typen bessere Chancen. Tatsächlich fand sich im Kühlschrank nur eine kleine Flasche Wasser.
Ich fragte den Direktor des Kanebo-Schönheitsforschungsinstituts nach den Hintergründen für die schnell wechselnden Modetrends in Japan. (Der gleiche Experte gilt auch als renommierter Niedlichkeitsforscher.) Nonomura
Sakae fotografiert seit den Achtzigerjahren an fünf ausgewählten Tokioter Straßenecken junge Frauen, um Modetrends zu dokumentieren. Wer seine Fotoalben und Festplattenverzeichnisse durchsieht, erkennt das Muster. In den unterschiedlichen Stadtvierteln finden sich unterschiedliche Typen. Das Shibuya-Girl ist bunt gekleidet, hält sich krumm und kichert in die Kamera. Die Dame an der Ginza trägt italienische Designerkleidung und stellt sich tadellos aufrecht hin. Das gemischteste Publikum findet sich in Shinjuku, wo Tokios verschiedene Welten aufeinanderprallen: Büroarbeit neben Fashion, Regierung neben Rotlicht, Universität neben Bank.
Japaner sehen sich gegenseitig recht zuverlässig an, zu welcher Gruppe sie gehören. Die Uniformierung hilft ihnen dabei.
»Du musst da hinten abbiegen, da, wo das Grüppchen von Visual-Kei-Mädchen steht«, zeigte mir Kenji in Meguro den Weg zurück zum Bahnhof. »Wer? Was?«, fragte ich. »Die Mädchen mit den schwarzen Jacken und den silbernen Schnallen am Rock«, erklärte er. »Visuel Kei«, das ist das Aussehen, das sich auch der Sänger der Band »Tokio Hotel« abgeschaut hat.
Ein bisschen über das Normalmaß hinaus geht auch der Fanatismus der Japaner für frische Esszutaten. Manchmal traf ich Kenji zum Mittagessen in der Nähe seiner Firma oder zum Abendessen auf dem Heimweg. Oft reichte uns auch ein Schnellessen für fünf Euro. Wir gingen öfter zur Imbisskette Naka-u, die Fleisch auf Reis und Nudelsuppen anbietet. Im Set war das Essen billiger, dann kommen Rindfleischstreifen
auf Reis zusammen mit einer Schale Udon-Weizennudeln.
Bei einem der ersten Male sah ich auf Kenjis Tablett noch ein rohes Ei, das er genüsslich aufschlug und über seinen Fleischreis gab, um ihn deftiger zu machen.
»Schmeckt das?«, fragte
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