Tokio Total - Mein Leben als Langnase
die jeder Nummer die Koordinaten des Teilnehmers zuordnen.
Erst im dritten Jahr mit einem neuen Handy kam ich wieder von der Sucht los. Mein neues Smartphone hatte kein GPS. Es war geradezu eine Befreiung, wieder einfach so in die U-Bahn steigen zu können.
Generell zögern die Japaner nicht, eine neue Technik auch wirklich zu benutzen. Und so wird an allem geforscht, was sich nur vorstellen lässt: Die Firma NTT Data IMC arbeitet an einem einfachen und preiswerten Gerät für PR-Agenturen, um die Wirkung von Werbefilmen auf das Gehirn zu messen - das Ergebnis ist ein Diagramm, aus dem Wohlgefühl und Unbehagen, aber auch sexuelle Erregung oder die Anregung des Appetits ablesbar sein sollen. Die Testpersonen müssen einen Helm voller Elektroden aufsetzen, der aus einem schlechten Science-Fiction-Film der Sechzigerjahre stammen könnte.
Ein Professor in Nagoya hat dagegen für Nissan einen Lack entwickelt, der jedem Auto ein unverwechselbares DNA-Muster geben soll - um Fahrerflucht nach Unfällen zu verhindern.
Die Auto-DNA könnte in Japan Pflicht werden. Es würde mich nicht wundern, schließlich muss ich als Ausländer bereits meine Fingerabdrücke abgeben.
Auch bei der Verwertung von Abwasser sind die Japaner für alles offen. Der Biologe Mitsuyuki Ikeda war auf die konsequenteste Form des Recyclings von menschlichen Ausscheidungen gekommen: Lebensmittel. »Shit Burger«, hat Ikeda auf eine Frischhaltetüte geschrieben. In herzlicher japanischer Direktheit beschrieb der Wissenschaftler damit die Natur der braunen Streifen darin. Denn Ikeda leitete eine Forschungsgruppe, die Fleisch aus Fäkalien gewann. Japan sucht schon lange nach Möglichkeiten, mehr Lebensmittel im eigenen Land herzustellen. »Selbst Abwasser kann als etwas Nützliches wiederverwertet werden«, sagte Ikeda selbstbewusst. Sein Verfahren entzog den menschlichen oder tierischen Ausscheidungen die verbliebenen Proteine. Dieses Extrakt mischte Ikeda mit Steaksauce und Sojaproteinen. Das Endprodukt ähnelte tatsächlich Fleisch in Mundgefühl und Geschmack, zumindest auf den Scheiße-Burgern, die Ikeda im Labor zubereitete. »Das Kanalisationsamt konnte durch unsere Forschung zeigen, dass Abwasser gar nicht so gefährlich und ekelhaft ist, wie der Laie denkt«, sagte Ikeda.
Wegen der hohen Forschungskosten ist Ikedas Fäkalfleisch allerdings zwanzigmal teurer als totes Tier.
Manchmal trauen die Menschen der Technik auch etwas viel zu. Ein Klingelton zur Brustvergrößerung war eine Weile lang die am häufigsten heruntergeladene Anwendung fürs Handy. Der Psycho-Experte Hideto Tomebachi hatte eine Melodie entwickelt, bei deren Klang sich die Oberweite von
Frauen ausdehnen sollte. Ein Magazin berichtete von einer begeisterten 19-Jährigen, deren Brustumfang bereits von 87 auf 89 Zentimeter gestiegen war. Danach gab es kein Halten mehr. Schließlich ist ein Klingelton wesentlich billiger als ein Silikonimplantat. Mehr und mehr Frauen und Mädchen zeigten sich vom Brustton überzeugt. Der Fall bewies für mich erneut, dass Japaner in jeder Lebenslage vor allem auf ihr Mobiltelefon vertrauen.
Für Männer hatte Tomebachi auch eine Melodie im Angebot, die Haarausfall verhindern sollte. Der Psychologieprofessor war in den Neunzigerjahren berühmt geworden, als er versprochen hatte, die Mitglieder der Aum-Sekte von ihrer terroristischen Ideologie zu heilen - diese hatten zuvor Giftgas in der U-Bahn freigesetzt.
Tomebachi behauptete, das weibliche Gehirn interpretiere die von ihm entwickelte Lautfolge als Babygeschrei. Das wiederum setze einen Mechanismus in Gang, der den Busen anschwellen ließe. Außerdem, so führte der Wahrnehmungswissenschaftler aus, enthalte das Geräusch eine Komponente, die eine »Verlagerung vom Bauchfett ins Brustgewebe« bewirke.
Trotz der wissenschaftlich fundierten Erklärung schwand die Beliebtheit der Erfindung schnell wieder. Das Fernsehen zeigte ein ultra-angesagt gestyltes Mädchen in Shibuya, das seine Freundin beschimpfte: »Äh, du hast diesen Tittenton draufgeladen? Bescheuert! Hast du etwa Komplexe?«
Insel und Ausland oder Nippons Mühe mit uns Langnasen
Von 1639 bis 1854 riegelte sich Japan komplett gegen die Außenwelt ab und schoss mit Kanonen auf jedes Schiff, das sich näherte. In der Abgeschiedenheit bildete sich eine ganz besonders originelle Kultur, so wie durch Isolation auf den Galapagosinseln einzigartige Tierarten entstanden. Das Problem: Im Herzen wehren sich viele Japaner heute immer noch
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