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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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und kratzte in meinem Gehörgang herum. Die junge Frau setzte sich für die Behandlung mit Mundschutz und weißem Kittel neben mich auf einen Hocker. Ich starrte auf einen Flachbildschirm vor mir und sah eine Liveübertragung aus meinem Hörorgan. Kanno-sans Schabelöffelchen trug eine medizinische Minikamera an der Spitze.
    Eine so sanfte Gehörgangreinigung, das kann nicht jeder.
    Der Ohrensalon von Kanno-san lief ausgesprochen gut. Dazu trug auch die Lage zwischen einem Wolkenkratzerviertel und einer bunten Geschäftsgegend mit Restaurants, Elektroläden und Animierbars bei. Unten an der Straße wies ein grünes Schild mit einem stilisierten Ohr auf das Geschäft hin. Eine rostige Wendeltreppe führte zu »Ohren-Sauber« hinauf, vorbei an »Dr. Foot« im ersten Stock, dessen Werbebilder mehr als eine gewöhnliche Fußmassage versprachen. Zu manchen Tageszeiten mussten die Kunden bei »Ohren-Sauber« eine Stunde warten, bevor sie an die Reihe kamen. Der Vorraum mit Platz für sechs Wartende beruhigte durch sanftes Grün, aus den Lautsprechern kam romantische Disney-Filmmusik. Als Neukunde hatte ich beim ersten Besuch ein Formular ausfüllen müssen: Ohrenkrankheiten? Häufigkeit der Ohrreinigung? Ohrtyp? Mit einer Shiatsu-Massage zusammen dauert der Service 20 Minuten und kostet 14 Euro. Kanno-san warnte zu Beginn, dass die Behandlung gefährlich
sein kann und ich mich sofort melden soll, wenn etwas weh tue. Mein linkes Ohr ging noch. Dann, im rechten Ohr, die Verhärtung. Kanno-san machte Laute des Erstaunens, so etwas sah sie nicht oft. Japanische Eltern kratzen die Ohren ihrer Kinder mit einem Löffelchen aus, und auch die Erwachsenen machen stochernde Gehörganghygiene. In Japan gilt das als normal, gesund und notwendig.
    Aber auch der ausländische Härtefall stellte Frau Kanno nicht vor ein echtes Problem, Ohrpflegerin ist in Japan ein Ausbildungsberuf. Ihre Empfehlung für die Zukunft: wie die anderen Kunden zweimal monatlich vorbeikommen. Dank Punktekarte gab es nach zwanzig Behandlungen eine gratis. Seitdem komme ich öfter. Nach der ersten Reinigung hörte ich plötzlich besser.

    Japaner, so heißt es, seien die Preußen Ostasiens.
    Ich muss gestehen, ich bezweifle, dass sich alle Preußen gleich verhalten oder verhalten haben. Wenn mit dem Vergleich gemeint ist, dass Japaner nach Möglichkeit pünktlich eintreffen, sich tendenziell an Regeln halten und ihre Aufgaben mehrheitlich diszipliniert erledigen, dann ist da sicherlich etwas dran. Ein deutscher Firmenchef in Japan sagte mir, dass er noch nie so regeltreue Mitarbeiter erlebt habe wie nach seinem Amtsantritt in Kawasaki.
    Doch über einen großen Unterschied zwischen ihrer eigenen und der japanischen Arbeitsauffassung sind sich alle Deutschen im Lande einig. Japaner opfern sich gern zwecklos auf und geben sich gern sinnlos Mühe. Sie legen sich erst dann so richtig ins Zeug, wenn nicht die geringste Aussicht auf ein angemessenes Ergebnis besteht.

    Durch ihre so besonders aktive rechte Gehirnhälfte besitzen die Japaner die Fähigkeit, die Sichtweise des anderen einzubeziehen. Auch als Chefs oder Lehrer honorieren sie sinnlose Anstrengung. Sie sehen auch hier eben eher das große Ganze statt des konkreten Resultats. Der Blick gilt nicht nur dem Endergebnis, sondern auch dem Weg dahin. Es ist wie im Matheunterricht in der Schule: Auch für den Rechenweg gibt es noch Punkte.
    Kenji war eines frühen Morgens bei einem Geschäftstermin zur falschen Zweigstelle eines Kunden gefahren. Sein Abteilungsleiter absolvierte den Termin alleine, obwohl Kenji eigentlich der Fachmann gewesen wäre. »Er war mir aber gar nicht so böse, wie ich gedacht hatte«, erzählte Kenji. »Denn ich war extra um fünf Uhr morgens aufgestanden, um rechtzeitig dort zu sein, und hatte mir richtig Mühe gegeben.«
    Auch die Aufnahmeprüfungen für japanische Unis spiegeln das wider. Sie fragen Unmengen von Wissen ab, das für nichts gut ist. Wer studieren will, muss mit 19 Jahren wissen, dass das Jahr Juei 4 des traditionellen Kalenders 1185 im westlichen Kalender entspricht und den Beginn der Kamakura-Zeit markiert. Im Fremdsprachenteil hackt der Test beispielsweise endlos auf sinnverwandten Wörtern herum - die künftigen Studenten müssen den Unterschied zwischen »Umbrella« und »Parasol« kennen, obwohl die meisten von ihnen sich mit ganz grundlegendem Englisch noch ziemlich schwertun. Auf die Uni kommt nur, wer sich Mühe gibt, ohne nach dem Sinn zu fragen.
    Diese Mühe

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