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Tokio Vice

Titel: Tokio Vice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jake Adelstein
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gibt eine eindeutig festgelegte Grenze für die Höhe der Zinsen, die verlangt werden können.

Das Königreich des Menschenhandels
    Die Menschen zollen den Toten auf unterschiedliche Weise Respekt. Ich hätte normalerweise Blumen auf ihr Grab gelegt, doch der Leichnam war noch nicht gefunden worden. Darum zog ich stattdessen einen 10 000-Yen-Schein aus der Brieftasche und gab ihn Fujiwara-san vom Polaris Project Japan. Polaris betreibt in Tokio eine Hotline für die Opfer von Menschenhändlern, und die Leute dort tun ihr Bestes, um die Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam zu machen.
    Fujiwara-san sagte, dass die Zahl der Telefonanrufe bei Polaris im letzten Jahr ein wenig zugenommen hätte. Die meisten Anruferinnen waren koreanische und osteuropäische Frauen. Sie dankte mir für die Spende und fragte, ob einer meiner Bekannten russisch spreche. Ich versprach, ihr jemanden zu vermitteln.
    Ich glaube, dass ich an meinem Beruf zu zweifeln begann, als ich anfing, mich mit dieser widerwärtigen Seite der japanischen Sexindustrie zu befassen. Erst als es zu spät war, merkte ich, dass mich das Ganze langsam ausbrannte.
    Natürlich stumpft man mit den Jahren als Polizeireporter ab, denn würde man um jedes Opfer trauern oder das Leid der Familie mitempfinden, wäre man bald reif für die Klapsmühle. Mord, Brandstiftung, bewaffneter Raub, Familiensuizid – das alles wird zur Routine. Man neigt dazu, die Opfer zu entmenschlichen, und manchmal ärgert man sich sogar darüber, dass sie einem den freien Tag oder einen geplanten Urlaub verderben. Das hört sich schrecklich an, und das ist es auch. Aber so läuft es eben.
    Eigentlich hatte ich angenommen, dass ich schon eine Menge über die dunkle Seite Japans wusste. Ich hatte über Lucie Blackman berichtet, einem Serienmörder nachgespürt, fast eine Leiche berührt, die unter Strom stand, einem Mann zugeschaut, der sich selbst
angezündet hatte, und vieles mehr. Ich dachte, dass ich ziemlich abgehärtet sei.
    Irgendwie war ich zynisch geworden – und auch kalt. Und wenn ein Reporter anfängt zu erkalten, ist es sehr schwer für ihn, dies wieder zu ändern. Wir alle bauen uns einen Panzer um die Seele, um die Gefühle bewältigen zu können, die Selbstbeherrschung zu bewahren und unsere vielen Termine einhalten zu können. Das müssen wir auch.
    Ich hatte über Kabukicho berichtet und war in Roppongi Hinweisen hinterhergejagt. Die Mädchen in der »Maid Station« hatten ganz offen über ihre Situation gesprochen. Ich war mittlerweile auch ziemlich vertraut mit den rechtlichen Aspekten der japanischen Sexindustrie, hielt aber sexuelle Ausbeutung nur für ein Gerücht, das puritanische Bürokraten im Westen verbreiteten – Leute, die Japans Sexkultur eben nicht kannten. Aber ich sollte bald eines Besseren belehrt werden.
    Im November 2003 klingelte mein Telefon.
    Eine Ausländerin, die ich nicht kannte und die leidlich gut japanisch sprach, war dran. Da ich nicht wirklich verstand, was sie von mir wollte, schlug ich ihr vor, lieber englisch zu sprechen.
    »Eine Freundin hat mir Ihre Nummer gegeben. Sie ist Stripperin im ›Kama Sutra‹ und meinte, Sie könnten mir vielleicht helfen.«
    »Worum geht es?«
    »In dem Club, in dem ich arbeite, gibt es ein paar neue Mädchen aus Polen, Russland und Estland, und ich glaube, dass sie ... gezwungen werden.«
    »Was meinen Sie damit genau?«
    »Sie werden zu ihrer Arbeit gezwungen und nicht dafür bezahlt.
Sie sind eine Art Sklavinnen.«
    »Wie bitte?«
    »Ja, Sklavinnen. So würde ich es bezeichnen.«
    »Und was machen Sie dort?«
    »Sie können mich ruhig als Prostituierte bezeichnen«, erwiderte sie ohne jegliche Spur von Verlegenheit. »Offiziell bin ich Englischlehrerin, aber ich gehe mit Männern ins Bett, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
    »Und Sie tun das freiwillig?«
    »Natürlich. Aber diese neuen Mädchen, die sie in den Club gebracht haben ... bei denen ist das anders. Sie wollen das nicht machen. Man hat sie irgendwie dazu gezwungen, es zu tun. Sie weinen ständig und dürfen das Haus tagsüber nicht verlassen.«
    »Aha«, sagte ich nur, eine eher armselige Reaktion, aber ich war für den Moment sprachlos und musste diese Informationen erst einmal verarbeiten. Dann fragte ich die Anruferin, was ich ihrer Meinung nach tun solle.
    »Sie sind doch Zeitungsreporter. Schreiben Sie einen Artikel und finden Sie heraus, was da vor sich geht. Entlarven Sie diese Bastarde und helfen Sie den Frauen, da

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