Tokio Vice
rauszukommen.«
Das war ziemlich viel verlangt. Schließlich hatte ich bisher noch gar nichts von einer solchen Praxis gewusst. Ich wollte schon sagen, dass ich mich um die Sachen kümmern würde, als mir plötzlich auffiel, dass ich ihre Stimme kannte. »Sagen Sie, kennen wir uns eigentlich?«
»Ja, als Sie an dem Artikel über Lucie Blackman gearbeitet und mit den Mädchen in der Bar gesprochen haben, haben wir miteinander geredet.«
Sie hieß Helena. Das war natürlich nicht ihr richtiger Name, aber er passte zu ihr. Wir trafen uns im ersten Stock eines Starbucks-Cafés in Roppongi. Sie trug einen schwarzen Rock, eine eng anliegende schwarze Lederjacke über einer lindgrünen Bluse und kniehohe schwarze Lederstiefel. Sie sah wirklich gut aus. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und als Make-up trug sie lediglich etwas granatapfelfarbenen Lippenstift. Oberhalb der Oberlippe hatte sie einen Leberfleck.
Ich stellte mich vor, so als würden wir uns zum ersten Mal treffen, und gab ihr meine Karte. Sie gab mir ihre erst später. Dann unterhielten wir uns über das Wetter und nippten an unserem Kaffee. Schließlich erzählte sie mir ihre Geschichte.
Helena war 2001 von Australien nach Japan gekommen. Zunächst hatte sie an einer Sprachenschule englisch unterrichtet und nebenbei ein wenig als Hostess gearbeitet. Eines Abends war sie nach dem Unterricht mit einem ihrer Schüler, einem Geschäftsmann in den Fünfzigern, etwas trinken gegangen und hatte ihn schließlich in ein Liebeshotel begleitet. Als er sich verabschiedete, gab er ihr 10 000 Yen (etwa 500 Dollar) und meinte, das sei die Erstattung ihrer »Reisekosten«. Nach und nach gabelte Helena immer mehr Freier auf und nahm dann eines Tages einen Job in einem exklusiven Club namens »Den of Delicious« an, um sich ein regelmäßiges Einkommen zu sichern. Sie behielt ihre privaten Kunden, kümmerte sich aber tagsüber um Laufkundschaft.
»Ich bin freiwillig Prostituierte. Ich mag Sex, und ich verdiene damit viel mehr Geld als als Englischlehrerin. Für mich ist das in Ordnung. Aber ich habe ein Problem damit, wenn Frauen zur Prostitution gezwungen werden. Und ich habe ein großes Problem mit den Dreckskerlen, die sie dazu zwingen.
In Roppongi sind zwei Männer für das Ganze zuständig, sie beliefern auch den Club in Shibuya, in dem ich arbeite, mit Mädchen. Der eine ist Japaner – alle nennen ihn Slick16 –, der andere ist ein niederländischer Jude namens Viktor. Ihnen gehören fünf oder sechs Clubs. Sie werben Ausländerinnen meist aus ärmeren Ländern durch Anzeigen oder Agenten an, bringen sie nach Japan, stecken sie in Sexclubs und beuten sie aus. Die Frauen sind total abhängig von diesen
Bastarden und enden als Sexsklavinnen.
Angeblich wird ihnen zunächst mehr Geld versprochen, als sie sich vorstellen können. Aber sobald sie hier sind, sieht alles ganz anders aus. Wenn sie etwas zu essen haben wollen, müssen sie ihren Körper verkaufen, eine andere Wahl haben sie meist nicht. Und von ihrem Lohn werden jede Menge Abzüge gemacht. Slick erzählt ihnen, sie müssten für ihn arbeiten, weil sie keine Arbeitserlaubnis hätten. Er aber habe eine Erlaubnis dafür. Wenn sie nicht für ihn arbeiten wollten, müsse ihnen klar sein, dass sie in Roppongi keine andere Arbeit fänden. Ich kenne eine Frau, die zur Polizei gegangen ist, aber die Beamten dort haben ihr gedroht, sie zu verhaften, und dann musste sie ihnen auch noch zu Diensten sein.
Viktor erzählt herum, dass er seit sechs Jahren hier ist. Er hat mit Tänzerinnen angefangen und sich zum Zuhälter hochgearbeitet. Er ist sehr stolz auf sich. Er sagt, dass er genau weiß, welche Mädchen japanische Männer haben wollen: blonde und blauäugige. Er profitiert davon, dass die Frauen total hilflos sind, weil sie dann tun müssen, was er ihnen sagt.
Viktor spielt gerne den netten Burschen – außer wenn es um Geld geht. Dann wird er zum Teufel. Slick ist verheiratet und hat eine Tochter.«
Helenas Geschichte klang echt. Warum hätte sie auch lügen sollen? Dennoch war ich noch nicht gänzlich überzeugt. Schließlich hatte sie das alles nur beobachtet und war selbst kein Opfer. Für mich war das eine Geschichte aus zweiter Hand, und vielleicht wollte sie sich ja auch nur an jemandem rächen. Daher sagte ich ihr, dass ich zuallererst mit einem dieser Mädchen persönlich sprechen müsse.
Das verunsicherte sie etwas. »Wenn man das Mädchen dabei erwischt, bekommt es wirklich
Weitere Kostenlose Bücher