Tokio Vice
unaufhörlich weiter. Als man ihn zum zweiten Mal diagnostizierte, war es viel zu spät.
Wäre Sekiguchi ein mächtiger Gangster wie Tadamasa Goto gewesen, hätte er die beste Behandlung der Welt bekommen. Mehrere Ärzte hätten seine Werte analysiert, ihn untersucht und seine Fortschritte Tag und Nacht überwacht. Er hätte in der Klinik der Tokioter Universität eine ganze Suite für sich allein gehabt. Aber er war nicht Tadamasa Goto, sondern nur ein einfacher Polizist, der nie über den Rang eines Polizeimeisters hinausgekommen war, und er hatte nicht viel Geld.
Er konnte es sich nicht einmal leisten, zu Hause zu bleiben und sich zu erholen. Er musste immer noch jeden Tag zur Arbeit gehen. Selbst in Japan war es teuer, nicht zu sterben.
»Wissen Sie, ich habe endlich aufgehört zu rauchen. Ein wenig spät, aber immerhin hab ich’s getan.«
»Tut mir leid. Ich hätte die Dinger nicht mitbringen sollen.«
»Nein, nein. Eine letzte Zigarette mit Ihnen, das gefällt mir irgendwie. Sogar mit diesen beschissenen Premiumzigaretten. Vielleicht rauche ich eine von Ihren.«
»Bedienen Sie sich.« Ich bot ihm eine an.
Er nahm sie, klopfte damit sanft auf den Tisch, betrachtete sie von oben bis unten, zündete sie an und inhalierte.
»Süß. Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Also, erzählen Sie mir, was es Neues gibt, während ich dieses Ding rauche. Ich hoffe, Sie hatten einen guten Grund, wieder nach Japan zu reisen, andernfalls trete ich Ihnen nämlich in den Arsch. Denn ich halte es für keine gute Idee, so früh zurückzukommen.«
Er hatte recht. Er hatte fast immer recht. Er hatte auch recht gehabt, als wir vor ein paar Monaten im Hotel in Shinjuku das nette Gespräch mit den Abgesandten von Goto geführt hatten. Seither hatte sich viel verändert. Ich hatte im November 2005 bei der Yomiuri gekündigt, etwa einen Monat, nachdem Gotos Leute mich bedroht hatten.
Eigentlich sollte der Goto-Artikel mein letzter Knüller sein, eine Art krönender Abschluss. Aber das hatte nicht geklappt, und ich hatte keine Lust, an einem weiteren Artikel zu arbeiten, der sowieso nicht an prominenter Stelle gedruckt werden würde. Die Yomiuri erlaubte mir, den größten Teil meines ausstehenden Urlaubs zu nehmen, und ließ mich ziehen. Ich hatte gerne für die Yomiuri gearbeitet, aber seit Anfang 2005 forderten die Artikel über den Menschenhandel ihren Tribut, und meine unangenehme Begegnung mit Gotos Leuten genügte, um mich zum Packen zu veranlassen. Die Leute von der Yomiuri waren sehr verständnisvoll, und ich durfte nach meinem Ausscheiden sogar meine Betriebsversicherung behalten.
Also kehrte ich nach Hause in den Mittleren Westen zurück. Dort meldete ich mich für einen juristischen Eignungstest an, denn ich wollte Jura studieren. Ich bemühte mich aufrichtig, ein neues Leben zu führen. Keine Zigaretten. Keine Trinkgelage bis drei Uhr morgens. Keine Freunde, die mich nach Mitternacht anriefen. Kein
Herumhängen mit Polizisten, Stripperinnen oder Prostituierten. Nichts, was gefährlicher war als ein Rasenmäher.
Dann schickte mir mein Kumpel Ken, der für die CIA arbeitete, eine E-Mail. Das amerikanische Außenministerium finanzierte eine umfangreiche Studie über den Menschenhandel in Japan. Er sagte, dass er mich für den Job empfohlen habe, und wollte wissen, ob ich interessiert sei. Ich las die Mail mehrere Male.
Und ich dachte lange darüber nach. Mit Goto hatte ich anscheinend alles geklärt. Wir hatten eine Art Friedensvertrag geschlossen. Trotzdem wollte ich meine Familie nicht mit nach Japan nehmen, denn ich traute diesen Ganoven nicht. Das Angebot hörte sich gut an, und das Gehalt war nicht schlecht. Außerdem konnte ich etwas Gutes tun, vielleicht konnte ich mit ausreichender finanzieller Unterstützung viel mehr tun als bisher. Aber wollte ich wirklich in die Welt des Lasters zurückkehren, die ich hinter mir gelassen hatte?
Ich dachte an meine Zukunftspläne, daran, was ich Sunao versprochen hatte. Dann, ohne vorher mit jemandem darüber zu reden, sagte ich zu.
Ich wusste, dass es falsch gewesen wäre, nein zu sagen. Es war eine Art Pflicht. Vielleicht hätte ich es aber lieber als eine Art Versuchung ansehen sollen.
Also war ich wieder in Japan, bevor das Jahr zu Ende ging, und besuchte erneut die Orte, an denen ich bereits so viel Zeit verbracht hatte. Ich wollte unbedingt Sekiguchi sehen, wahrscheinlich lag mir mehr an seiner Zustimmung als an seinem Rat.
Das alles erzählte ich ihm und er war
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