Tokio Vice
überreagierte oder sie für zu schwach hielt. Vielleicht war sie auch high, jedenfalls warf ich ihr das vor. Daraufhin entwickelte sich unser Gespräch zu einem Streit, und sie hängte plötzlich auf.
Ich versuchte, sie zu erreichen, aber sie ging nicht mehr ans Telefon. Am nächsten Tag probierte ich es wieder einige Male. Dann rief ich einen Freund an und bat ihn, nach ihr zu sehen. Er tat es – aber niemand war in ihrer Wohnung. Ich traute mich nicht, die Polizei zu verständigen, weil Helena sonst als Prostituierte verhaftet worden wäre. Also musste ich sie selbst suchen und durfte keinen einzigen Tag verlieren. Daher buchte ich sofort einen Flug nach Japan. Sunao tobte vor Wut.
Auf der langen Reise schickte ich ihr immer wieder E-Mails. Nach meiner Ankunft ging ich sofort zu dem Club, in dem sie gearbeitet hatte, doch sie war nicht da. Im Club arbeiteten überhaupt keine Ausländerinnen mehr. Meine E-Mails blieben unbeantwortet, und der Hauswirt sagte, dass sie seit zwei oder drei Tagen nicht nach Hause gekommen sei.
Nach einer Woche gab es schließlich keinen Zweifel mehr daran, dass sie aus ihrem Apartment verschwunden war und tagsüber nicht mehr als Englischlehrerin arbeitete – ich hatte auch das überprüft. Sie hatte keine Nachsendeanschrift hinterlassen und nichts aus ihrer Wohnung mitgenommen.
Ich war ratlos.
Schließlich tat ich das Einzige, was mir einfiel: Ich machte mich an die Arbeit. Die IEA hing irgendwie mit der Goto-gumi zusammen, dieser Spur musste ich also folgen.
Wenn Goto etwas mit Helenas Verschwinden zu tun hatte – was nicht auszuschließen war –, dann wollte ich das herausfinden. Und selbst wenn er nichts damit zu tun hatte, hätte ich schon längst mit dem Artikel über seine Lebertransplantation weitermachen sollen. Das lenkte mich zwar von meinen Recherchen über den Menschenhandel ab, aber es war kein völlig anderes Thema. Natürlich ging ich damit ein Risiko ein und trat Goto wahrscheinlich erneut auf den Schlips, aber das kümmerte mich wenig. Vermutlich hatte ich es ohnehin schon getan. Da ich das Gift bereits gegessen hatte, konnte ich auch noch den Teller ablecken, wie die Japaner zu sagen pflegen.
Yakuza-Geständnisse
Wie war Goto in die USA gelangt? Allmählich kam ich der Lösung dieses Rätsels näher, denn ich hatte eine Spur und einen guten Informanten, der viel wusste und reden wollte.
Es war ein klarer, kalter Tag im Dezember 2006, als ich in einem sehr hübschen Krankenhaus mitten in Tokio Masaki Shibata besuchte, einen ehemaligen Yakuza. Er war ein sehr intelligenter Mann und er war mit dem Kaiser der Kredithaie befreundet gewesen. Wie klein die Welt doch ist.
Ich war gerade dabei, das Projekt »Menschenhandel« abzuschließen, und stellte gleichzeitig weitere Nachforschungen an, um Geld zu verdienen. Helena blieb verschwunden, und ich machte mir große Sorgen um sie.
Ich hielt mich mal in den USA, mal in Japan auf. Den Kindern schien ihr neues Heim zu gefallen, und sie lernten schnell Englisch.18 Natürlich gab es auch Anpassungsprobleme. Besonders schwierig fand ich, dass die USA anders als Japan keine Krankenversicherung für jedermann hatten. Das war schlimm, als Beni an hohem Fieber litt und wir es uns eigentlich nicht leisten konnten, sie in die Notaufnahme zu bringen – außer wenn es wirklich nicht mehr anders gegangen wäre. In Japan wären wir einfach mitten in der Nacht hingefahren, ohne lange darüber nachzudenken. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mir über die Kosten einer ärztlichen Behandlung Gedanken machen müssen.
Die öffentliche Gesundheitsfürsorge in Japan kann schlecht sein, aber in den meisten Fällen ist sie gut, zumindest besser als nichts.
Doch eines ist seltsam in Japan: Fast jedes Restaurant ist makellos, die Fußböden glänzen, die Theken sind sauber, die Tischdecken sind strahlend weiß. Aber für Krankenhäuser gilt das nicht. Dort sind die Böden meist mit einer dünnen Staubschicht überzogen, und die Bettwäsche hat nach dem Waschen noch Flecken. Die Fenster sehen aus, als wären sie seit Jahrzehnten nicht mehr geputzt worden. Man muss die Schuhe ausziehen und in schimmelige Pantoffeln schlüpfen, um durch schwach beleuchtete Korridore zu gehen, die mit medizinischen Geräten und Versorgungsmaterial vollgestopft sind.
Shibatas Krankenhaus jedoch war anders. Man durfte Schuhe tragen und die Räume waren sauber und hell.
Ich meldete mich nicht an, um keinen Hinweis darauf zu hinterlassen, dass ich Shibata
Weitere Kostenlose Bücher