Tokio Vice
Tempels wird 108 Mal geschlagen, einmal für jede Kardinalsünde im buddhistischen Universum. Wer zuhört, wird angeblich von seinen Sünden befreit und kann das neue Jahr frisch und rein beginnen.
Nach dem Läuten der Tempelglocke pilgern die Menschenmassen zu den Shinto-Schreinen, um für Glück im kommenden Jahr zu beten. Drei, vier oder – abhängig vom Kalender - fünf Tage lang arbeitet niemand. Viele Leute kehren in ihre Heimatstadt zurück, und die Straßen der Geschäfts- und Regierungsbezirke sind still und verlassen.
Bevor das alles jedoch geschieht, wird die wichtigste Zeremonie im Leben einer Firma abgehalten, meist in der ersten Dezemberhälfte. Diese bonenkai ist eine »Vergiss-das-Jahr-Feier«, eine passende Bezeichnung, wenn man bedenkt, wie viel Alkohol dabei getrunken wird. Alle, Mitarbeiter und Chefs, schlagen über die Stränge und amüsieren sich köstlich. Für das Yomiuri -Büro in Urawa bedeutet das traditionell ein ausgiebiges Trinkgelage. Meine erste bonenkai war da keine Ausnahme.
Sie fand in einer Art Kneipe statt, die izakaya genannt wird. Das Menü bestand wie üblich aus Fisch (roh und gekocht), Jakitori, Tofu, Essiggurken, Reisbällchen und Katzenfisch-Tempura, da Urawa für diesen Fisch berühmt ist.
Zu Beginn lief alles reibungslos. Alle Neulinge mussten etwas zur Unterhaltung beitragen, also zeigte jemand Kartentricks, ein anderer verdrehte Ballons zu Tieren, und mir gelang es, eine 500-Yen-Münze die Nase hochzuziehen, was als unglaubliche Leistung galt. Und
danach ging die Party so richtig los.
Wir verließen gerade die Kneipe, als Kimura, der rechtsgerichtete, kaisertreue Chef des Büros in Kumagaya, plötzlich zu nerven begann. Der kleine, stämmige Bursche mit dem kurzen Haar und den Dauerwellen erinnerte mich an den Yakuza, den ich als Praktikant kennengelernt hatte.
Nüchtern war er ein netter Kerl, aber betrunken konnte er richtig unangenehm werden, und an diesem Abend hatte er ziemlich viel gebechert. Schon als wir die nächste izakaya betraten, hackte er ständig auf mir herum, und nachdem wir uns hingesetzt hatten, grinste er höhnisch und meinte: »Wenn ich dich so anschaue, Adelstein, dann weiß ich echt nicht, warum wir den Krieg verloren haben. Wie konnten wir nur gegen einen Haufen schlapper Amerikaner verlieren, gegen Barbaren ohne Disziplin, ohne Kultur und ohne Ehre? Das verstehe ich wirklich nicht. Lang lebe der Kaiser! Tenno ni
banzai! «
In über fünf Jahren als College-Student war ich keinem Nationalisten begegnet. Natürlich wusste ich, dass es sie gab. Ich wusste, dass Yukio Mishima, einer der wichtigsten Schriftsteller Japans, Bodybuilder, schwul und Nationalist war. Ich hatte rechtsradikale Gruppen in ihren schwarzen Kombis durch die Stadt fahren sehen, mit Lautsprechern, aus denen kaiserliche Marschmusik dröhnte. Aber ich war unsicher, wie ich mich Kimura gegenüber verhalten sollte. Was erwartete er von mir? Sollte ich sagen »Tut mir leid, dass wir den Krieg gewonnen haben«?
Da ich mich aber grundsätzlich nicht mit Betrunkenen streite, nickte ich bloß und machte typisch japanische Bemerkungen wie »So kann man es auch sehen« oder »So könnte es gewesen sein«.
Anfang der Neunzigerjahre galten historische Revisionisten und kaisertreue Typen wie Kimura im Allgemeinen als liebenswerte Exzentriker, die niemand ernst nahm. Also beschloss ich, Kimura ebenfalls nicht ernst zu nehmen.
Yoshihara und Chappy retteten mich, indem sie einige Male mit mir Platz tauschten. Aber Kimura folgte mir wie ein Pitbull einem Eichhörnchen. Als wir auf eine weitere Bar zutorkelten, tippte er mir auf die Schulter.
»Ich habe im Mitteilungsblatt der Firma gelesen, dass du wing chun trainierst. Das ist doch eine chinesische Kampfkunst, oder?«
»Stimmt.«
»Kennst du shorinji kempo ?«
»Ja, das ist eine sehr interessante japanische Kampftechnik, die
Doshin So entwickelt hat.«
»Es ist die beste Kampftechnik der Welt, eine japanische Kampfkunst.«
»Sie ist ganz bestimmt großartig, aber ich ziehe wing chun vor, weil es besser zu mir passt.«
» Shorinji kempo ist die beste.«
Ich drehte mich um und ging mit Yamamoto auf die Tür unseres neuen Zieles zu. Da sah ich aus dem Augenwinkel, dass Kimura mir einen Roundhouse-Kick verpassen wollte.
Eigentlich bin ich kein guter Kampfsportler. Wing chun ist bekannt für einen kurzen, wuchtigen Stoß mit den Fingerknöcheln. Selbst nach jahrelangem Wing-chun -Training beherrschte ich nur drei Dinge wirklich
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