Tokio Vice
aufreißen, und niemand ist ärgerlich, wenn Sie die Arbeit gemütlich angehen. Lernen Sie ein paar Polizisten kennen, schreiben Sie ein paar Klatschgeschichten, füttern Sie die echten Polizeireporter mit ein paar Informationen – dann machen Sie alles richtig.«
»Aber ich dachte, dass Kabukicho eine Brutstätte des Verbrechens ist.«
»Das stimmt. Aber da ist nichts Berichtenswertes. Hier werden ständig Menschen ermordet oder verletzt. Aber wen kümmert es, wenn irgendein Chinese, ein Yakuza-Schläger oder sonst wer umgenietet wird? Die Polizei nicht und die Öffentlichkeit schon zweimal nicht. Auch wenn ein Fall noch so sehr nach Mord riecht, dann steht in neun von zehn Fällen im Polizeibericht Körperverletzung mit Todesfolge oder Totschlag. Und warum? Weil sie dann keine gründliche Untersuchung vornehmen müssen. Selbst wenn sie einen chinesischen Skimmer10 mit 36 Messerstichen finden, nennen sie es Tod durch Unfall. Wahrscheinlich würden sie den Vorfall nicht einmal öffentlich machen.«
»Aber was ist denn dann berichtenswert?«
»Alles, was eine Berühmtheit, einen ganz normalen Bürger oder einen Jugendlichen betrifft. Mehr nicht. Wenn Yakuza einander verprügeln und es nach einem Bandenkrieg aussieht, dann ist es vielleicht einen Artikel wert.«
»Ich dachte, ich soll mir den Namen, die Anschrift und die Telefonnummer jedes wichtigen Kripobeamten im Polizeirevier beschaffen.«
»Ja, das heißt es, aber das ist unmöglich. Es ist nicht mehr wie früher. In der alten Zeit sind Sie zum stellvertretenden Polizeichef gegangen, und der hat Ihnen dann eine Liste mit den Namen und Adressen jedes Dezernatsleiters gegeben. Aber das macht heute niemand mehr, schon gar nicht der Maulwurf.«
»Der Maulwurf?«
»So nennen wir den Vizepolizeichef hier, weil er andauernd die Augen zusammenkneift, als könne er kein Licht vertragen. Er hat immer nur in der Verwaltung gearbeitet und hält es für seine Pflicht, Ihnen Informationen vorzuenthalten, auch Pressemitteilungen. Er tut, was er kann, um Ihnen jede Geschichte zu vermasseln, an der Sie arbeiten. Der Mann ist völlig wertlos und hasst Journalisten. Viel Glück mit ihm.«
Frau Bohnenstange kicherte.
»Stimmt das denn?«, fragte ich sie.
»Absolut. Aber vielleicht geht er mit einem Ausländer ja anders um, wer weiß?«
Das tat er allerdings nicht. Als ich den Maulwurf fragte, wann ich den Polizeichef sprechen könne, um mich vorzustellen, lehnte er das ab. Als ich fragte, wann ich mit Kripobeamten der einzelnen Dezernate sprechen dürfe, sagte er: »Nie.« Auf jede Frage gab der Maulwurf mehr oder weniger die gleiche Antwort.
»Ich bin für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Wenn Sie etwas wissen wollen, dann fragen Sie mich. Außerdem kümmern sich die Tokioter Kollegen um alle großen Fälle. Belästigen Sie also unsere Leute nicht.«
Zum Glück für mich hatte der Polizeichef von Misawa, dem erfahrensten und angesehensten Polizeireporter der Yomiuri , von mir gehört, und während der Maulwurf mich noch abzuwimmeln versuchte, kam der Chef aus seinem Büro und bat mich zu sich. Als ich auch ihn fragte, ob ich bei den Dezernatsleitern vorsprechen dürfe, wies er den Maulwurf an, das zu veranlassen. Ich merkte, dass der Maulwurf bei dieser Anweisung zusammenzuckte, aber er tat, was man ihm aufgetragen hatte.
Natürlich lag es nicht nur an meinem charmanten Auftreten, dass der Chef auf meiner Seite war. Ich hatte mich gründlich vorbereitet und wusste, dass der Polizeichef ein starker Raucher war und Lucky Strikes mochte. Daher hatte ich einen Freund gebeten, sich im Duty-free-Shop damit einzudecken. Die Zigaretten waren in einer Kiste verpackt, nicht in Papier, was damals wohl ungewöhnlich war. Und eine Kiste Zigaretten konnte in Japan viel bewirken.
Nachdem ich unter den wachsamen Augen des Maulwurfs mit etwa zehn Polizeibeamten Visitenkarten ausgetauscht hatte, fuhr ich zurück in den Presseclub.
Die Bohnenstange wartete schon auf mich und stellte mich meinen Kollegen vor. Wir plauderten ein wenig und ich gab die üblichen Antworten: Ja, ich bin ein netter Kerl. So bin ich zur Yomiuri gekommen. Ja, ich kann Sushi essen. Ja, ich mag Polizisten. Ja, ich kann japanisch lesen und schreiben.
Als ich mich über den Maulwurf beklagte, war schnell klar, dass niemand ihn leiden konnte. Insofern trug er viel dazu bei, die Clubmitglieder enger zusammenzuschweißen. Da es an diesem Tag
keine aufregenden Nachrichten gab und auch keine Mitteilungen
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