Tokio Vice
weiter verfolgt. Und ich hatte ihm nie meine private Telefonnummer gegeben.
Das war also das deprimierende Ende der Geschichte. Ich hatte
einen soliden Vorsprung gehabt, war immer auf dem neuesten Stand der Ermittlungen gewesen und hätte erfahren können, dass man Kawasakis Überreste gefunden hatte. Das hätte für mich die Sensationsgeschichte des Jahres werden können, aber es wurde nichts daraus.
Sekine und seine Frau wurden letztlich wegen Mordes an vier
Menschen verurteilt. Wie viele sie aber wirklich umgebracht haben, wurde nie geklärt.
Willkommen in Kabukicho!
Nach einem kurzen und ziemlich langweiligen Abstecher in die Lokalpolitik Saitamas sollte ich wieder als Polizeireporter arbeiten, und diesmal in Tokio. Endlich würde ich zeigen können, was in mir steckte! Als wir Neulinge unser künftiges Aufgabengebiet zugeteilt bekamen, wurde ich in die Hölle geschickt – zur Sittenpolizei.
Ich war inzwischen seit etwa drei Jahren verheiratet, und Frau Sunao Adelstein war nicht gerade erfreut darüber, dass ich mich ins Sündenbabel begeben sollte. Meine Frau hatte ich bei einer Veranstaltung getroffen, über die sie für Nikkei Publications berichtet hatte, und es war mir gelungen, sie um eine Verabredung zu bitten. Sie war 29 und wollte verheiratet sein, bevor sie 30 war. Nach mehreren Verabredungen unterbreitete sie mir ihre Bedingungen: Wir konnten drei Monate lang miteinander ausgehen, aber wenn ich sie dann nicht heiraten würde, wäre es aus. Sie war amüsant, zweisprachig und sexy (das ist sie immer noch), und ihr Angebot war verlockend. Im Gegenzug lauteten meine Bedingungen: Heirat ja, aber Kinder frühestens in drei Jahren. Nachdem sie damit einverstanden war, verlobten wir uns und wurden tatsächlich am Tag vor ihrem 30. Geburtstag getraut – im Rathaus von Urawa während meiner Mittagspause.
Meine Frau war aufgeregt, weil wir nach Tokio umziehen würden, und ich war es ebenfalls. Endlich raus aus der Provinz! Ich war wieder Polizeireporter in der Großstadt.
Eigentlich war es der vierte Distrikt der Tokioter Polizei, aber in Wirklichkeit war es wie ein Kriegsgebiet. Zum vierten Distrikt gehörten die Polizei von Shinjuku (fast der ganze Stadtbezirk) und das berüchtigte Kabukicho, einst der größte, brisanteste und einträglichste Rotlichtbezirk in Tokio. Unter Gouverneur Shintaro Ishihara bemühte sich die Tokioter Polizei, ihn zu säubern, und schließlich war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Anlass dazu war vermutlich das schreckliche Feuer im Gebäude Meisei 56 im September 2001, bei dem 44 Menschen starben. Das Haus gehörte Shigeo Segawa, einem Sexindustriellen und Yakuza, der auch als Soapland-König bekannt war. Er verstieß in seinen Gebäuden immer wieder gegen Sicherheitsbestimmungen.
Das Unglück machte die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, was für ein gesetzloses Viertel Kabukicho geworden war. Und es war sicher, dass etwas geschehen musste, vielleicht keine radikale Säuberung, aber immerhin musste durchgesetzt werden, dass die Sicherheitsbestimmungen eingehalten wurden. Immerhin!
Was die Verderbtheit anbelangte, konnte kein anderer Distrikt es mit Kabukicho aufnehmen: Drogen, Prostitution, sexuelle Sklaverei, Bars mit üblen Abzockmechanismen, Singlebörsen, Massagesalons, SM-Salons, Pornoshops und Pornoproduzenten, teure Hostessenclubs, billige Salons mit Oralsex, mehr als hundert verschiedene Yakuza-Gruppen, die chinesische Mafia, Schwulenbars, Sexclubs, Läden, die getragene Unterwäsche von Schülerinnen verkauften, und eine Einwohnerschaft, die ethnisch unterschiedlicher war als irgendwo sonst in Japan. Es war wie ein fremdes Land mitten in Tokio. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie zwielichtig Kabukicho damals wirklich war. Ich wusste nur, dass ich darüber berichten sollte.
Ich war seit Jahren nicht mehr dort gewesen und fragte mich, ob der mysteriöse Tarot-Automat wohl noch dort stand, der 1991 meine Zukunft so genau vorhergesagt hatte. Vielleicht war es ja Zeit für ein Update, denn Rat konnte ich wirklich gebrauchen. Denn der vierte Distrikt war eine schwere Aufgabe.
Immerhin schickte man mich nicht alleine los. Okimura erhielt von Inoue den gleichen Auftrag. Okimura war wie ich 1993 zur Yomiuri gestoßen und wusste über Kabukicho viel besser Bescheid als ich. Er war bereits in Yokohama gewesen, einem anderen Brennpunkt der Kriminalität, und hatte sich an der Front bewährt. Er hatte eine der schönsten Hostessen in Yokohama geheiratet und
Weitere Kostenlose Bücher