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Tokio Vice

Titel: Tokio Vice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jake Adelstein
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sich dadurch mindestens einen Redakteur der Zweigstelle Yokohama zum Feind gemacht, der damals auch um diese Frau geworben hatte. Okimura hatte im College Kickboxen trainiert und sah immer noch schlank und fit aus.
    Die Polizeireporter standen unter dem Kommando von Kollegen, die im Hauptquartier der Tokioter Polizei stationiert waren. Sie befahlen, wir gehorchten. Außerdem waren wir von der Gnade der yu-gun (Reservisten) abhängig, die uns jederzeit aus dem Einsatz zurückrufen konnten, wann immer sie uns brauchten. Inoue hatte angeordnet, dass wir Jungreporter dieses Jahr praktische Erfahrungen sammeln durften und nicht nur als Laufburschen für die älteren Kollegen dienen sollten. Das war ein interessantes Experiment.
    Das Polizeirevier Shinjuku war zehn Minuten zu Fuß von Kabukicho entfernt. Das Haus war ziemlich neu und überragte die benachbarten Gebäude. Es hatte mindestens sechs Stockwerke. Vor dem Haus stand immer ein Polizeibeamter, an dem man vorbeimusste, um in das Gebäude zu gelangen. Als ich ihm erzählte, dass ich Reporter bei der Yomiuri war, zuckte er nicht mit der Wimper, warf nur einen Blick auf meinen Ausweis und ließ mich durch. Offenbar war die Polizei in Tokio, zumindest im Revier Shinjuku, besser an Ausländer gewöhnt.
    Fast jeder Tokioter Stadtbezirk hat ein Polizeirevier mit einem Presseclub. Das Revier Shinjuku beherbergte den Presseclub des vierten Bezirks. Ich fuhr mit dem Aufzug nach oben. Dort erwartete mich ein gigantischer, quadratischer Raum mit einer Reihe von Schreibtischen für jede Zeitung und jeden Fernsehsender. Neben der Tür befand sich ein abgesperrter Raum mit vielen Futons, in dem man sich zum Schlafen hinlegen konnte.
    Der Mann hinter dem Schreibtisch, den ich bekommen sollte, schnarchte, als ich dorthin kam. Er hing auf seinem Sessel so weit nach hinten, dass er fast nach hinten weggekippt wäre. Seine Arme hingen schlaff am Rumpf herab, seine Nase zeigte zum Himmel, sein Haar war struppig. Er machte gurgelnde Geräusche und sein Hemd war mit Reiskräckerkrümeln bedeckt. Deshalb nannte ich ihn sofort Krümel.
    Die junge Reporterin von der Asahi , die zwei Plätze von ihm entfernt saß – für mich Frau Bohnenstange –, schürzte entrüstet die Lippen, als ich eintrat. Sie warf mir einen komischen Blick zu, schaute mir in die Augen, sagte aber nichts. Nun ließ ich meinen Rucksack mit Büchern, meiner Kamera und meinem Computer lässig auf Krümels Schreibtisch fallen. Der laute Plumps schreckte Krümel auf, dabei rutschte er vom Stuhl und landete vor meinen Füßen.
    »Tut mir leid.« Etwas Besseres fiel mir gerade nicht ein.
    Krümel griff nach einer halb leeren Reiskräckerschachtel und stand auf.
    »Kein Problem. Hab nur ein wenig Schlaf nachgeholt. Also ...«
    »Also was?«
    »Also Sie lösen mich ab, stimmt’s?«
    »Ja.«
    »Nun, ich kann Ihnen nicht viele Informationen geben. Denn ich bin noch nicht lange im vierten Bezirk, und wir Bezirksreporter sind offen gesagt so sehr mit Kleinkram beschäftigt, dass wir kaum hier sind.«
    »Das sagte Inoue-san auch. Aber dieses Jahr will er die Bezirksreporter wirklich an die Front schicken, als Vorbereitung für die Arbeit im Hauptquartier.«
    Er zog ein rotes Notizbuch aus einem Notizbuchstapel auf dem Tisch und sagte: »Aha. Ich wünschte, das wäre bei mir auch so gewesen. Hier ist die Liste mit den Anschriften der Polizisten. Lang ist sie nicht.«
    Nein, sie war wirklich nicht lang, und sie war seit über einem Jahr nicht mehr aktualisiert worden. Wenn das alles war, was er hatte, musste ich ganz von vorne anfangen und mir selbst eine Liste mit den Namen und Anschriften von Polizeibeamten zusammenstellen, damit ich sie abends besuchen konnte. Nun überreichte er mir Verlautbarungen der Distriktpolizei, Zeitungsausschnitte, einen Stadtführer von Kabukicho und einen Plastikbeutel voller Visitenkarten.
    Dann fragte ich Krümel, wie ich es in diesem Distrikt zu einem erfolgreichen Reporter schaffen könnte.
    Nachdem er einige Zeit an einem Reiskräcker herumgekaut hatte, verriet er mir, was seiner Meinung nach einen guten Polizeireporter ausmachte.
    »Im Grunde genommen sind Sie Kanonenfutter, Adelstein. Die Bezirksreporter sind Laufburschen für ihre Kollegen im Tokioter Polizeiclub und im Hauptbüro. Alles, was die örtliche Polizei hier von sich aus unternimmt, ist eh unwichtig, und Sie haben schon Glück, wenn es wenigstens in die Lokalausgabe kommt. Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie hier einen Knüller

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