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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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dem Fenster hatte sich eine Plastiktüte in einem Baum verfangen und flatterte im Wind.
    Doch es war nicht das Gewitter gewesen, das mich geweckt hatte. Je länger ich in den Gang hinausschaute, desto mehr drängte sich mir der Gedanke auf, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas war mit dem Licht geschehen. Gewöhnlich ließen wir nachts die Deckenbeleuchtung an, doch jetzt
    war die Helligkeit, die von Mickey Rourkes Plakat unter den Türen hindurchschimmerte, die einzige Lichtquelle, und statt einer Reihe von Glühbirnen sah ich das Funkeln von Glassplittern. Ich blinzelte einige Male, während sich meine Gedanken seltsam träge bewegten. Die Glühbirnen im Korridor waren zerschlagen worden.
    Es ist jemand im Haus, dachte ich, noch immer merkwürdig gelassen. Es ist jemand Fremdes im Haus. Ich holte tief Luft und trat lautlos auf den Korridor hinaus. Alle Türen auf dieser Seite des Hauses waren zu - selbst die Küchentür. Meist ließen wir sie offen, für den Fall, dass jemand in der Nacht Hunger oder Durst verspürte. Selbst die Toilettentür war geschlossen. Ich ging ein paar Schritte den Flur entlang, stieg über die Glassplitter hinweg, während ich versuchte, das Heulen des Windes zu ignorieren und mich auf das Geräusch zu konzentrieren. Es kam aus dem Teil des Korridors, wo die Galerie abzweigte und Jasons Zimmer lag. Während ich dort stand und flach atmete, kristallisierte sich ein Geräusch heraus, löste sich nach und nach vom Heulen des Windes. Als ich es endlich erkannte, blieb mir fast das Herz stehen. Es war das Wimmern eines Menschen, dem Schmerz zugefügt wurde.
    Ich trat zum nächstgelegenen Fenster und öffnete es. Ein weiteres Geräusch drang an mein Ohr; es klang wie ein verstohlenes Rascheln, so als hätten sich alle Ratten im Haus in einem Zimmer versammelt. Von meinem Standpunkt aus hatte ich freie Sicht auf den Garten und zum gegenüberliegenden Flur. Was ich dort sah, versetzte mir einen solchen Schreck, dass ich mich blitzschnell hinkauerte, mit zitternden Fingern den Fensterrahmen umklammerte und vorsichtig über den Sims spähte.
    Jasons Tür stand offen. Im Dämmerlicht konnte ich einen
    Umriss in seinem Zimmer erkennen, eine geduckte Gestalt - wie von einer Hyäne, die sich über einen Kadaver beugt und drauf und dran ist, ihn zu zerreißen. Mir sträubten sich die Haare. Die Krankenschwester. Die Krankenschwester war im Haus ... Und dann entdeckte ich eine weitere Gestalt in dem Zimmer, etwas abseits stehend und nach vorn geneigt, so als würde sie zu etwas auf dem Boden schauen. Sie stand mit dem Rücken zu mir, doch etwas an der Haltung der Schultern sagte mir, dass es der Mann war, der an diesem Abend Fuyuki den Treueeid geschworen hatte: der Chimpira.
    Ich blinzelte ein paarmal verwirrt, während meine Gedanken rasten: Was ist los? Warum sind sie hier? Ist das ein Scherz?
    Ich richtete mich ein wenig auf und konnte jetzt Jasons Kopf und Schultern sehen. Er lag ausgestreckt, mit dem Gesicht nach unten, am Boden. Der Chimpira hielt ihn mit seinem Fuß
    unerbittlich fest. In diesem Moment ging die Krankenschwester in Hockstellung, ihre muskulösen Beine in den schwarzen Nylonstrümpfen weit gespreizt. Jener leise, schreckliche Laut, den ich gehört hatte, war Jasons Flehen, als er versuchte, sich zu befreien. Sie beachtete ihn nicht, war mit grausamer Konzentration bei der Sache, wiegte sich vor und zurück. Ihre Hände, die sich knapp außerhalb meines Blickfelds befanden, vollführten kleine, genau abgezirkelte Bewegungen, so als würde sie eine komplizierte und heikle Operation durchführen. Ich weiß nicht, weshalb, doch plötzlich überkam mich die Erkenntnis: Du bist Zeuge einer Vergewaltigung. Sie vergewaltigt ihn.
    Ich erwachte aus meiner Trance. Schweiß rann mir über den Rücken. Ich stand auf und öffnete den Mund zum Sprechen. So als hätte der Wind meine Witterung zu ihr getragen, blickte die Krankenschwester hoch und hielt inne. Ich erstarrte: Es war, als wäre die ganze Welt ein Teleskop, mit mir an einem und der Krankenschwester am anderen Ende. Selbst jetzt noch frage ich mich, was sie gesehen hat: einen flüchtigen Schatten, zwei funkelnde Augen in einem unbeleuchteten Fenster am anderen Ende des Gebäudes.
    In diesem Augenblick heulte eine Windbö durch den Garten, so dass das ganze Haus davon erfüllt war. Die Krankenschwester neigte den Kopf und sprach leise zum Chimpira. Der richtete sich langsam auf und starrte in meine Richtung. Dann drückte er die

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