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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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genommen«, erklärte ich, »aber jetzt kann ich nicht mehr. Es ist an der Zeit, dass Sie mir den Film geben.«
    Shi Chongming erhob sich ganz langsam, stützte sich auf den Gehstock und wies dem Studenten die Tür. »Schnell, schnell«, zischte er, als der junge Mann stocksteif auf seinem Stuhl sitzen blieb und mich anstarrte. »Mach schon, schnell!«
    Der Student stand zögernd auf. Seine Miene war finster, während er, mich argwöhnisch beäugend, zur Tür ging, hinausschlüpfte und sie mit einem kaum hörbaren Klicken hinter sich schloss.
    Shi Chongming ließ sich Zeit, bevor er sich zu mir umdrehte und sagte: »Nun, haben Sie sich wieder beruhigt?«
    »Beruhigt? Ja, ich bin ruhig. Sehr ruhig.«
    »Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir, was passiert ist.«

    47
    Nanking, 20. Dezember 1937
    Es gibt nichts Schmerzlicheres als einen stolzen Mann, der zugeben muss, einen Fehler begangen zu haben. Wir ließen das tote Kind auf der Straße liegen und machten uns auf den Rückweg. Als wir die Stelle erreichten, an der wir uns trennen mussten, legte Liu seine Hand auf meinen Arm. »Gehen Sie heim, und warten Sie auf mich«, flüsterte er. »Ich werde zu Ihnen kommen, sobald ich den jungen Liu nach Hause gebracht habe. Die Dinge ändern sich.«
    Wie versprochen, keine zwanzig Minuten, nachdem ich wieder zu Hause war, ertönte das verabredete Klopfzeichen an der Tür. Als ich öffnete, stand er mit einer Mappe aus derbem Bambussackleinen unter dem Arm auf der Schwelle.
    »Wir müssen reden«, murmelte er und blickte sich um, um
    sich zu vergewissern, dass Shujin uns nicht hören konnte. »Ich habe einen Plan.«
    Er zog als Zeichen seines Respekts die Schuhe aus und trat in das kleine Zimmer im Erdgeschoss, das wir für formelle Anlässe benutzten. Shujin achtete darauf, dass es immer ordentlich und einladend aussah. Wir hatten es mit Stühlen und einem roten Lacktisch, der mit wunderschönen
    Perlmuttintarsien in der Form von Pfingstrosen und Drachen verziert war, ausgestattet. Wir setzten uns an den Tisch und breiteten unsere Gewänder um uns herum aus. Shujin schien sich nicht über Lius Besuch zu wundern. Sie verschwand nach oben, um sich das Haar zu richten, und
    nach einer Weile hörte ich sie in die Küche gehen, um Wasser zu kochen.
    »Ich kann Ihnen nur Tee und ein paar von den Buchweizenklößen Ihrer Frau anbieten, Liu Runde«, sagte ich.
    »Mehr nicht. Es tut mir Leid.«
    Er neigte den Kopf. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. «
    In seiner Mappe befand sich ein von ihm selbst angefertigter detaillierter Stadtplan von Nanking. Er musste die letzten Tage daran gearbeitet haben. Als die Teekanne vor uns auf dem Tisch stand und unsere Tassen gefüllt waren, breitete er den Plan vor mir aus.
    »Das«, erklärte er und kreiste eine Stelle außerhalb von Chalukou ein, »ist das Haus eines alten Freundes. Ein Salzkaufmann, sehr reich; das Haus ist groß, mit einer Frischwasserquelle, Granatapfelbäumen und gut gefüllten Speisekammern. Nicht weit vom Purpurberg. Und das hier«, er machte ein Kreuz ein paar Li weiter innerhalb der Stadt, »das hier ist das Taiping-Tor. Es gibt Berichte, dass die Mauer in dieser Gegend unter schwerem Beschuss gestanden hat, und es besteht die Chance, dass die Japaner im Moment durch den Vorstoß nach Westen nicht allzu viele Männer abgestellt haben, um diesen Abschnitt zu bewachen. Immer vorausgesetzt, dass wir die Stadtmauer überwinden können, würden wir von dort auf Seitenstraßen und kleinen Gassen grob der Hauptstraße nach Chalukou folgen, bis wir weit nördlich der Stadt auf den Fluss stoßen. Mit ein wenig Glück finden wir dort ein Boot, und dann flüchten wir vom gegenüberliegenden Ufer aus in die Anhui-Provinz.« Wir schwiegen eine Weile, während wir uns ausmalten, wie wir unsere Familie durch all diese Gefahren lotsten. Schließlich, so als hätte ich einen Einwand vorgebracht, nickte Liu. »Ja, ich weiß. Es hängt alles davon ab, dass die Japaner ihre Truppen stromaufwärts in Xiaguan und Meitan konzentriert haben.«
    »Im Radio heißt es, dass es spätestens in den nächsten
    Tagen eine Bekanntmachung über das Selbstverwaltungskomitee geben wird.«
    Er sah mich ernst an. Es war das erste Mal, dass man seine inneren Qualen so deutlich an seiner Miene ablesen konnte.
    »Teuerster Herr Shi, Sie wissen ebenso gut wie ich, wenn wir hier bleiben, sitzen wir in der Falle wie Ratten in einem Abflussrohr und können nur noch darauf warten, dass die Japaner uns

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