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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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flüsterte sie, »was für Durcheinander. Du sicher, sie sind weg?«
    Ich sah zur Treppe. »Ja, ich glaube schon.«
    Irina gesellte sich zu uns, und alle drei schauten wir ängstlich den Gang hinunter. Da war ein Geruch, ein unverkennbarer Geruch, der mich an Innereien in einer Metzgerei denken ließ. Ich schluckte. »Hört zu ... wir müssen vielleicht ...« Ich hielt inne. »Was ist mit einem Arzt? Wir müssen vielleicht einen Arzt rufen.«

Svetlana kaute nervös auf ihrer Lippe herum, während sie und Irina Blicke wechselten. »Wir bringen ihn zu Arzt, Grey, und sie wollen wissen, was passiert ist, und dann kommt die Polizei her und schnüffelt, und dann ...«
    »Einwanderungsbehörde«, sagte Irina und schnalzte mit der Zunge. »Einwanderungsbehörde.«
    »Und wer soll bezahlen, mhmm?« Svetlana drehte ihre Zigarette um und betrachtete die glühende Spitze, so als hätte sie zu ihr gesprochen. »Kein Geld mehr.« Sie nickte. »Kein Geld mehr in ganzes Haus.«
    »Dawai!« Irina legte ihre Hand in mein Kreuz und schob mich sacht vorwärts. »Geh hin. Geh hin und schau an, dann wir reden.«
    Ich setzte mich zögernd in Bewegung, stieg über den Koffer und blieb vor seiner Tür stehen, starrte auf den Türgriff. Was, wenn er nicht drin war? Was, wenn ich mit meinen Vermutungen über Fuyuki und seine Medizin Recht hatte? Das Wort »Jagd« kam mir in den Sinn. War die Krankenschwester zum Jagen hergekommen? Ich schaute zurück zu den Russinnen, die ängstlich in der Tür standen. Irina hielt sich die Ohren zu, als würde sie eine Explosion erwarten.
    »Na gut«, sagte ich leise zu mir, drehte mich um, streckte meine zitternde Hand nach der Tür aus und holte tief Luft. »Na gut.«
    Ich zog, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. »Was ist?«, zischte Svetlana.
    »Keine Ahnung.« Ich rüttelte an der Tür. »Sie ist abgeschlossen.« Ich beugte mich ganz nah an die Tür. »Jason?« Ich wartete und lauschte.
    »Jason - hörst du mich?« Ich klopfte an der Tür. »Jason, hörst du mich? Bist du ...«
    »Verpiss dich!« Seine Stimme klang gedämpft, so als würde er von unter der Bettdecke sprechen. »Geh von meiner Tür weg und verpiss dich.«
    Ich trat einen Schritt zurück und musste mich mit einer Hand an der Wand abstützen, so sehr zitterten mir die Knie. »Jason, du ...«, ich atmete ein paarmal tief durch, »... brauchst du einen Arzt? Ich bringe dich nach Roppon-gi, wenn du möchtest ...«
    »Ich sagte, verpiss dich.«
    »Wir sagen ihnen, dass wir nächste Woche bezahlen, wenn ...«
    »Bist du verdammt noch mal taub?«
    »Nein«, sagte ich und starrte verständnislos auf die Tür.
    »Nein, ich bin nicht taub.«
    »Er ist okay?«, zischte Svetlana.
    »Was?«
    »Er ist okay?«
    »Ahm«, sagte ich und sah zweifelnd auf die Tür. »Nun, ich denke, ja, das ist er.«
    Es dauerte lange, bis wir davon überzeugt waren, dass die Krankenschwester nicht zurückkommen würde. Es dauerte noch länger, bis wir den Mut fanden, das Haus in Augenschein zu nehmen. Der Schaden war unbeschreiblich. Wir räumten das Gröbste auf und säuberten uns dann im Badezimmer. Ich hatte ein geschwollenes Gesicht und Verletzungen an den Füßen, wo ich mich bei meinem Sprung aus dem Fenster geschnitten haben musste. Es war genau an der Stelle, wo mich das Baby im Traum gebissen hatte. Ich starrte sie lange an und zitterte dabei so stark, dass meine Zähne klapperten.
    Irina hatte noch etwas Geld in einer Manteltasche gefunden und erklärte sich bereit, mir eintausend Yen zu leihen. Ich räumte mein Zimmer auf, kehrte sorgfältig die Glasscherben und Splitter von der Tür zusammen, räumte alle Bücher in den Kleiderschrank und sortierte sorgfältig meine Notizen und Bilder. Anschließend fuhr ich mit der Ma-ranouchi-Linie nach Hongo.
    Der regennasse Campus sah völlig anders aus als bei meinem letzten Besuch. Das dichte Blätterwerk war verschwunden, so dass man ungehindert bis zum See und auf das verschachtelte, reich verzierte Ziegeldach der Sporthalle, das hinter den Bäumen aufragte, blicken konnte. Es war noch früh, doch Shi Chongming hatte bereits Besuch von einem Studenten, einem hochgewachsenen, pickeligen Jungen in einem orangefarbenen Sweatshirt mit der Aufschrift »Bathing Apes« auf der Brust. Beide verstummten, als ich das Büro betrat. Mein Gesicht wies Blutergüsse auf, meine Nasenlöcher waren noch immer blutverkrustet. Ich blieb mitten im Zimmer stehen und deutete auf Shi Chongming. »Ich habe viel für Sie auf mich

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