Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
Vom Netzwerk:
und ein leises Lächeln spielte um seine Lippen. Er schnippte den Büroklammervogel in den Papierkorb, stand auf und nahm einen Schlüsselbund von einer Schreibtischablage. Dann öffnete er eine abgeschlossene Schublade und holte ein Notizbuch heraus. Es sah uralt aus, war in dünnes Rindsleder gebunden und mit Schnur zusammengehalten. Er löste die Schnur, und ein Bündel vergilbter Seiten fiel auf den Schreibtisch. Sie waren mit chinesischer Schrift bedeckt, winzig und unleserlich. »Meine Memoiren«, erklärte er. »Aus meiner Zeit in Nanking.«
    »Aus Nanking?«
    »Was sehen Sie?«
    Ich beugte mich verwundert vor und starrte auf die winzige Kalligraphie, versuchte, ein Wort oder einen Satz zu entziffern.
    »Ich fragte, was sehen Sie?«
    »Ich sehe Memoiren.« Ich griff nach den Seiten, doch er zog sie rasch zu sich heran und legte schützend den Arm darum.
    »Nein. Nein, Sie sehen keine Memoiren. >Memoiren< ist nichts weiter als ein Begriff. Man kann eine Geschichte nicht sehen.« Er rieb die erste Seite zwischen seinen Fingern. »Was ist das?«
    »Papier. Kann ich es jetzt lesen?«
    »Nein. Was ist auf dem Papier?«
    »Geben Sie es mir nun oder nicht?«
    »Hören Sie mir zu. Ich versuche, Ihnen zu helfen. Was ist auf dem Papier?«
    »Schrift«, sagte ich. »Tinte.«
    »Genau.« Das seltsame graue Licht, das durch das Fenster drang, ließ Shi Chongmings Haut fast durchsichtig erscheinen.
    »Sie sehen Papier, und Sie sehen Tinte. Aber sie sind nicht länger nur Papier und Tinte, sie sind von meinen Vorstellungen und Überzeugungen verwandelt worden. Sie sind zu Memoiren geworden.«
    »Ich scher mich nicht um Memoiren und Papier und Tinte«, entgegnete ich, meinen Blick noch immer starr auf die Seiten gerichtet, »aber ich weiß, dass ich Recht habe. Fuyuki experimentiert mit Kannibalismus.«
    »Ich hatte vergessen, dass die Menschen aus dem Westen die Kunst des Zuhörens nicht kennen. Wenn Sie aufmerksam zugehört, wenn Sie weniger nach Art des Westens zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich Ihnen nicht widersprochen habe.«
    Ich sah ihn verständnislos an und wollte gerade »Und?«
    sagen, als mir schlagartig klar wurde, was er mir verständlich machen wollte. »Oh«, hauchte ich, »oh, ich denke, ich ...«
    »Sie denken?«
    »Ich ...« Ich verstummte und saß eine Weile gedankenverloren da, meinen Kopf leicht zur Seite geneigt. Es drängten sich mir Bilder von den liberianischen Kindersoldaten auf, die sich im Busch über ihre Feinde beugten, von der Human Leopard Society, von all den Menschen rund um den Globus, die das Fleisch ihrer Feinde gegessen hatten. Mir fiel das Kanji für Macht ein, das ich am Abend zuvor gemalt hatte. »Ich denke«, sagte ich gedehnt, »ich denke ... Fleisch kann verwandelt werden, oder nicht? Manchmal kann
    Menschenfleisch ... eine Kraft besitzen ...« »In der Tat.«
    »Eine Kraft - es kann verwandelt werden durch ... durch einen Prozess? Oder durch ...« Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Es ist nicht das Fleisch irgendeines x-beliebigen Menschen. Sie wollen sagen, dass es jemand Besonderes ist. Es ist jemand Besonderes - für Fuyu-ki. Stimmt's?«
    Shi Chongming schob die Seiten seines Tagebuchs zusammen und band die Schnur wieder darum. »Das«, sagte er, ohne mich anzusehen, »ist es, was Sie herausfinden müssen. «
    49
    Ich saß gedankenverloren da, während ich hoch über der Stadt, zwischen den Neonreklamen, den chromblitzenden Wolkenkratzern und dem blauen Himmel, quer durch Tokio zurückfuhr. Manchmal nahm Shi Chongming mich zu hart ran, dachte ich. Manchmal ging er mir auf die Nerven. In Shinjuku ratterte der Zug an einem der unzähligen, mit Fernsehbildschirmen bedeckten Wolkenkratzer vorbei, von denen jeder einzelne Bildschirm einen Mann in einem goldenen Smoking zeigte, der ein Lied schmetterte. Ich starrte eine Weile lang verständnislos darauf. Dann dämmerte es mir. Bison?
    Ich stand auf, ging auf die andere Seite des Zugs und schaute auf das Gebäude. Er war es, ein bedeutend jüngerer und schlankerer Bison als der, den ich kannte - den Kopf zur Seite geneigt, eine Hand der Kamera entgegengestreckt, sein Bild unzählige Male vervielfältigt, bis es das gesamte Gebäude bedeckte und sich tausend Doppelgänger synchron bewegten und sangen. In der linken unteren Ecke jedes Bildschirms prangte das Logo von NHK Newswatch. Die Nachrichten. Bison war in den Nachrichten. Als der Zug den Wolkenkratzer beinahe passiert hatte, gab es einen Schnitt, und

Weitere Kostenlose Bücher