Tokio
aufspüren.«
»Ja, ich weiß«, murmelte ich. Plötzlich traten mir Tränen in die Augen, Tränen, die ich Liu nicht sehen lassen wollte. Doch er war alt und weise und ahnte, was los war.
»Herr Shi, lassen Sie diese Schuld nicht zu schwer auf sich lasten. Ich selbst bin nicht besser dran als Sie. Auch ich habe mich des Hochmuts schuldig gemacht.«
Eine Träne rann über mein Gesicht, fiel auf den Tisch und landete auf dem Auge eines Drachen. »Was habe ich meiner Frau angetan? Meinem Kind?«
Der ehrwürdige Liu legte seine Hand auf die meine. »Wir
haben einen Fehler begangen. Nicht mehr und nicht weniger. Wir waren unwissend, das ist alles. Wir waren nur unwissend, Sie und ich.«
48
Manchmal vergessen Menschen, mitfühlend zu sein, geben
einem die Schuld an allem, selbst an den Dingen, die man getan hat, als man noch keine Ahnung hatte, dass sie falsch waren. Als ich schilderte, was im Haus passiert war, wollte Shi Chongming als Erstes wissen, ob ich seine Nachforschungen aufs Spiel gesetzt hätte. Ob ich ausgeplaudert hätte, wonach er suchte? Selbst als ich ihm eine vage Schilderung dessen gab, was Jason getan hatte, weshalb die Krankenschwester ins Haus gekommen war, zeigte Shi Chongming noch immer nicht so
viel Mitgefühl, wie ich gehofft hatte. Er wollte mehr erfahren.
»Was für eine merkwürdige Sache, die Ihr Freund da getan hat. Was dachte er sich denn nur dabei?«
Ich schwieg. Wenn ich ihm von Jason erzählte, was zwischen uns gewesen war, wäre es wieder wie in der Klinik, wo die Leute über mein Verhalten den Kopf schüttelten, mich ansahen und an Wilde dachten, die sich im Dschungel begatteten.
»Haben Sie mich verstanden?«
»Hören Sie«, begann ich und stand auf. »Ich werde Ihnen
alles ganz genau erklären.« Ich trat ans Fenster. Draußen regnete es. Wasser tropfte von den Bäumen. »Was Sie von mir verlangt haben, war sehr, sehr, sehr gefährlich.-Einer von uns hätte sterben können, und das ist keine Übertreibung. Ich werde Ihnen jetzt etwas sehr Wichtiges sagen ...« Ich schauderte und rieb mir über die Arme. »Die Sache ist ernster, als Sie glauben. Ich habe Dinge herausgefunden. Unglaubliche Dinge.« Shi Chongming saß reglos an seinem
Schreibtisch und lauschte mir mit gespannter Miene. »Es gibt da Geschichten über Menschen«, fuhr ich fort und senkte die Stimme, »Tote, die zerstückelt und als Medizin benutzt gegessen wurden. Verstehen Sie, wovon ich rede? Verstehen Sie?« Ich holte tief Luft. »Kannibalismus.« Ich wartete einen Moment, um das Wort wirken zu lassen. Kannibalismus. Kannibalismus. Man konnte förmlich fühlen, wie es, so für sich allein ausgesprochen, in die Wände einsickerte und den Teppich befleckte. »Sie werden sagen, ich sei verrückt, das weiß ich, aber daran bin ich gewöhnt, und es schert mich nicht, denn ich weiß: Die Sache, nach der Sie all die Zeit über gesucht haben, Professor Shi, ist Menschenfleisch.«
Ein Ausdruck tiefsten Unbehagens breitete sich auf Shi Chongmings Gesicht aus. »Kannibalismus«, wiederholte er barsch. »Ist es das, was Sie gesagt haben?«
»Ja.«
»Eine wahrlich abenteuerliche Vermutung.«
»Ich habe nicht erwartet, dass Sie mir glauben - ich meine, wenn der Konzern in Hongkong davon Wind bekäme, würden
sie ...«
»Sie verfügen über Beweise, nehme ich an?«
»Ich habe die Geschichten, die die Leute mir erzählen. Haben Sie je von Zanpan gehört? In Tokio heißt es, dass der Eintopf, den sie damals auf dem Markt verkauften ...«
»Was haben Sie tatsächlich gesehen? Mhmmm? Haben Sie
gesehen, wie Fuyuki Blut getrunken hat? Stinkt er abscheulich?
Ist seine Haut rot? Daran erkennt man einen Kannibalen, wussten Sie das?« Verbitterung hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Ich frage mich ...«, sagte er, »... ich frage mich, erinnert seine Wohnung an die grausigen Küchen in Die Räuber vom Liang-Shang-Moor?
Baumeln überall
Gliedmaßen? Hängen an den Wänden menschliche Häute?«
»Sie machen sich über mich lustig.«
Schweißperlen waren auf seine Stirn getreten. Sein
Adamsapfel bewegte sich ruckartig unter dem hohen Mandarinkragen.
»Machen Sie sich nicht über mich lustig«, sagte ich. »Bitte, machen Sie sich nicht über mich lustig.«
Er holte tief Luft und lehnte sich zurück. »Nein«, erwiderte er gepresst. »Nein, natürlich nicht.« Dann stand er auf und ging zum Waschbecken, wo er sich eine Hand voll Wasser in den Mund schöpfte. Er blieb eine Weile mit dem Rücken zu mir stehen,
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