Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
Vom Netzwerk:
ausgestattet.
    »Was ist? Worüber denkst du nach? Bist du noch da?«
    Im Fernsehen lief eine Werbung für Pocky-Schokostäbchen. Ich schaute einen Moment lang zu. Dann seufzte ich und wandte mich zur Tür. »Okay«, sagte ich, »ich rufe an.«
    Ich hatte noch nie zuvor ein R-Gespräch geführt, und als die vollautomatisierte Vermittlung nach meinem Namen fragte, hätte ich beinahe »Spacko« gesagt. Als seine Mutter ans Telefon kam, hörte sie schweigend zu. Ich wiederholte alles zweimal: die Adresse, wo das Haus zu finden war, dass er dringend einen Arzt brauchte und dass sie bitte - an dieser Stelle zögerte ich einen Moment, denn es war irgendwie merkwürdig, in dieser Weise über Jason zu reden - jemanden von der Westküste schicken sollte, weil das schneller wäre.
    »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« Sie hatte einen britischen Akzent, obgleich sie in Boston lebte. »Würden Sie mir freundlicherweise Ihren Namen nennen?«
    »Ich meine es ernst«, sagte ich und legte auf.
    Es war inzwischen dunkel, und als ich wieder im Haus war, knipste ich nur wenige Lampen an. Ich stellte mir unwillkürlich vor, wie es von außen aussähe. Ich kannte keinen Kunden, der mir Geld leihen würde, es war zu kalt, um im Park zu schlafen, und ich war nicht sicher, ob Mama Strawberry mir einen Vorschuss geben würde - ganz sicher keinen, der hoch genug wäre, um mir ein Hotel leisten zu können. Ich konnte Shi Chongming nicht um Geld anbetteln. Nach der Arbeit im Klub würde ich zurückkommen und hier schlafen müssen. Der Gedanke ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
    Es dauerte nicht lange, bis ich eine Auswahl an Werkzeugen aus den Abstellkammern zusammengesucht hatte: einen Holzhammer, einen Meißel, einen schweren Reiskocher, den man wahrscheinlich werfen könnte, wenn's hart auf hart käme. Ich wog den Holzhammer in meiner Hand. Er fühlte sich gut und beruhigend schwer an. Ich trug alles in mein Zimmer und reihte es entlang der Fußleiste auf. Dann packte ich einen dicken Pullover, meine Notizen und Zeichnungen von Nanking, meinen Pass und den Rest von Irinas Geld in meine Umhängetasche. Es erinnerte mich an die Erdbebenausrüstung, die wir alle griffbereit haben sollten. Ich trat ans Fenster, nahm die Tasche beim Trageriemen und senkte sie vorsichtig so weit nach unten, bis mein Arm ausgestreckt war. Dann ließ ich sie das letzte Stück hinunterfallen. Die Tasche landete mit einem leisen Platsch hinter der Klimaanlage. Von der Gasse aus würde sie niemand sehen.
    Während ich am Fenster stand, fing es mit einem Mal zu
    schneien an. Nun, dachte ich, Weihnachten steht bald vor der Tür. Weiche Flocken wirbelten vor dem schmalen Streifen grauen Himmels zwischen den Gebäuden und verdeckten Mickey Rourkes Gesicht. Wenn Weihnachten kam, war es nicht mehr lange hin, bis sich der Tod meines kleinen Mädchens zum zehnten Mal jährte. Zehn Jahre. Erstaunlich, wie die Zeit sich einfach so zusammenschiebt, wie ein

    Akkordeon. Ich verweilte lange gedankenverloren am Fenster, bevor ich es schloss. Dann wickelte ich eine Plastiktüte um meine Hand, ging hinaus in den Schnee, hob das tote Kätzchen auf, trug es in den Garten und begrub es unter einem Dattelpflaumenbaum.
    50
    Nanking, 20. Dezember 1937
    Ich schreibe dies bei Kerzenschein. Meine rechte Hand schmerzt von einer Verbrennung, die sich quer über meine Handfläche zieht. Ich hocke zusammengekauert auf dem Bett, die Vorhänge drumherum fest zugezogen, damit kein Licht hinaus in die Gasse dringt. Shujin sitzt mir gegenüber, in Todesangst nach dem, was heute Nacht passiert ist. Sie hält die Vorhänge fest umklammert und sieht immer wieder zur Kerze. Ich weiß, dass es ihr lieber wäre, wenn kein Licht brennen würde, doch gerade heute Nacht muss ich schreiben. Ich habe das überwältigende Gefühl, dass jede einzelne Geschichte, die jemand in diesen Tagen zu Papier bringt - egal, wie persönlich und unbedeutend sie auch sein mag -, eines Tages wichtig sein wird. Jede Stimme wird zählen, denn kein einzelner Mensch wird je Nankings Geschichte begreifen und ermessen. Ich habe alles verloren, an das ich glaubte, von dem ich überzeugt war
    -in mein Herz hat sich ein Loch gebrannt, und das Einzige, woran ich denken kann, ist, dass diese Besatzung das Ende eines Chinas bedeutet, welches ich seit Jahren missachtet habe. Sie ist das Ende unseres Glaubens, unserer Dialekte, Tempel, der Mondkuchen im Herbst und des Kormoranfischens am Fuß
    unserer Berge. Sie ist der Tod der

Weitere Kostenlose Bücher