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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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dreinschauenden Mann in einem weißen Nissan mit einem blau karierten Kindersitz auf dem Rücksitz abgeholt. Als sie fort waren, wirkte das Haus kalt und verlassen. Unter Jasons geschlossener Tür drang Licht, jedoch kein Laut. Ich stand lange davor, bevor ich klopfte. Keine Antwort. Als ich abermals klopfte, hörte ich ein ersticktes: »Was ist?«
    Ich öffnete die Tür. Das Zimmer war eiskalt und wurde nur vom flackernden Lichtschein seines kleinen Fernsehers erhellt. In dem trüben Licht konnte ich ein bizarres Durcheinander von Dingen auf dem Fußboden ausmachen, leere Flaschen, achtlos hingeworfene Kleidungsstücke, etwas, das wie der Mülleimer aus der Küche aussah. Im Fernsehen hüpfte eine junge Japanerin in einem Cheerleaderkostüm auf schwimmenden Inseln in einem Swimmingpool hin und her. Jasons Schreibtisch war quer vor die Tür geschoben und versperrte den Eingang.
    »Kletter rüber«, sagte er. Seine Stimme schien aus dem Wandschrank zu kommen.
    Ich streckte den Kopf ins Zimmer und versuchte, ihn zu erspähen. »Wo bist du?«
    »Kletter rüber, verflucht noch mal.«
    Ich hockte mich auf den Schreibtisch und zog die Tür zu, dann schaltete ich das Licht an.
    »Nein! Mach es aus!«
    Auf dem Boden lagen Knäuel von blutgetränkten Taschen-und Küchentüchern. Auch der Papierkorb war voll davon. Unter dem blutigen Futon ragte der gelbe Griff eines Tranchiermessers hervor, die Spitze eines Schraubenziehers und mehrere Meißel. Ich betrachtete das Waffenarsenal. Jason befand sich im Belagerungszustand.
    »Ich sagte, mach das Licht aus. Willst du, dass sie uns hier drinnen sieht?«
    Ich gehorchte, und es folgte ein langes, bedrohliches Schweigen. Schließlich sagte ich: »Jason, lass mich einen Arzt für dich holen. Ich rufe das Internationale Krankenhaus an.«
    »Ich sagte nein! Ich lass mich nicht von irgendeinem JapsDoktor betatschen.« »Ich rufe deine Botschaft an.« »Auf keinen Fall.«
    »Jason«, ich machte einen Schritt vorwärts. Ich konnte das saugende Schmatzen fühlen, als meine Füße sich von dem klebrigen Fußboden lösten. »Du blutest.«
    »Na und?«
    »Wo blutest du?«
    »Wo blute ich? Was für eine blöde Frage soll das denn sein?«
    »Sag mir, wo du blutest. Vielleicht ist es etwas Ernstes.«
    »Was, zum Henker, soll das denn heißen?« Er hämmerte an
    die Schranktür, so dass die Wände bebten. »Ich weiß nicht, was du denkst, was passiert ist, aber was immer es ist, du spinnst dir da was zusammen.« Er verstummte und atmete schwer.
    »Du bildest es dir ein. Du und deine blöden Hirngespinste. Du bist krank im Kopf.«
    »Mit meinem Kopf ist alles in Ordnung«, erklärte ich mit fester Stimme. »Ich bilde mir nichts ein.«
    »Nun, Baby, das hier bildest du dir ein. Niemand hat sich an mir vergangen, wenn es das ist, worauf du hinauswillst.« Ich konnte ihn jetzt sehen, im Kleiderschrank, zusammengekauert. Konnte gerade eben seinen Umriss erkennen, ein gemummt in eine Bettdecke. Er schien auf der Seite zu liegen. Es war unheimlich, hier im Halbdunkel zu stehen und seiner belegten Stimme zu lauschen. »Ich will nicht die leiseste Anspielung daraufhören. WAS MACHST DU DENN DA? STEH NICHT
    SO DICHT AM SCHRANK!« Ich wich einen Schritt zurück.
    »Bleib da stehen. Und guck mich nicht an, verdammt noch
    mal.« Ich hörte ihn atmen, schwer, gequält, so als hätte sich etwas in seiner Luftröhre verkeilt. »Hör mir jetzt gut zu«, sagte er, »du musst jemanden holen, der mir hilft.«
    »Ich bringe dich zu einem Arzt und ...«
    »Nein!« Er hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten und seine Gedanken zu ordnen. »Nein, hör zu. Da - da steht eine Nummer an der Wand. Neben dem Lichtschalter. Siehst du sie? Das ist meine - meine Mutter. Ruf sie an. Geh in eine Telefonzelle und ruf sie an, mach's als R-Gespräch. Sag ihr, sie soll jemanden herschicken, um mich abzuholen. Sag ihr, sie soll niemanden aus Boston schicken. Sag ihr, es muss einer der Männer aus dem Haus in Palm Springs sein. Die sind näher.«
    Palm Springs? Ich starrte den Wandschrank an. Jason, Teil einer Familie, die Häuser in Kalifornien besaß? Angestellte?
    Ich hatte ihn immer für einen echten Weltenbummler gehalten, einen, wie sie mir am Flughafen begegnet waren - einen zerfledderten Reiseführer unter dem Arm, eine Klopapierrolle hinten am Rucksack. Ich hatte mir vorgestellt, wie er Geschirr wusch, Englisch unterrichtete, an einem Strand schlief, nur mit einem Campingkocher und einem geflickten Schlafsack

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