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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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hinaufschaute und überlegte, was sie tun würde ...
    Ich hielt inne.
    Jasons Umhängetasche.
    Ich stand reglos davor und musterte sie. Ein seltsamer Gedanke kam mir in den Sinn. Er hatte die Umhängetasche an dem Abend von Fuyukis Party dabeigehabt. Wie benommen
    drehte ich mich um und starrte auf seine Tür. Jason?, dachte ich, und das Blut in meinen Adern gefror. Jason?
    Ich packte die Umhängetasche und betrachtete sie nachdenklich. Hör zu, hatte er gesagt, als er nach der Party in mein Zimmer gekommen war und dabei diese Tasche in seinen Händen hielt. Ich erinnerte mich klar und deutlich daran. Wir beide sind wie geschaffen füreinander. Ich werde dir etwas erzählen, was dir gefallen wird. Vor meinem geistigen Auge sah ich jetzt, wie die Krankenschwester am Swimmingpool vorbeieilte, in dem sich der Himmel spiegelte, während über ihrem Kopf ein rotes Alarmlicht blinkte. Ich hatte Jason nicht mit der Krankenschwester zusammen auftauchen sehen, als Fuyuki den Erstickungsanfall erlitt. Es hatte da eine Zeitspanne gegeben, nur eine kleine, als in dem Durcheinander alles hätte passieren können ...
    Ganz vorsichtig zog ich den Reißverschluss der Tasche auf und griff hinein. Ich fühlte Taschentücher, Zigarettenschachteln und ein Paar Socken, dann einen Schlüsselbund, ein Feuerzeug und in der Ecke etwas Pelziges, Kaltes. Ich erstarrte. Es war etwas in der Größe einer Ratte. Mein Nacken kribbelte. Jason? Was ist das? Ich strich mit den Fingern darüber, fühlte alte, tote Tierhaut, und plötzlich erinnerte ich mich. Ich holte tief Luft, zog den Gegenstand heraus. Es war die Nachbildung eines Bären - etwa zehn, zwölf Zentimeter groß. An dem Ring in seiner Nase hing eine geflochtene rot-goldene Schnur - es handelte sich um Irinas verloren gegangenen Bären. Er ein ganz komischer Kauz, der Jason, hatte sie einmal vor langer Zeit gesagt. Er gucken schlimmes Video, und er auch Dieb. Du weißt das? Er hat meinen Bär gestohlen und meinen Handschuh, hat sogar gestohlen Bild von meiner Großmama und meinem Großpapa ...
    »He!«, rief Jason plötzlich. »Was, zum Henker, geht da draußen vor?«
    Ich antwortete nicht, nahm die Umhängetasche und ging damit wieder zu seinem Zimmer. Vor seiner Tür blieb ich stehen und starrte auf den Koffer am Boden. Ich dachte einige Wochen zurück, als er seine Hand vor meinem Gesicht hatte hochschnellen lassen, um Shi Chongmings explodierenden Drachen nachzuahmen. Er hatte gewusst, dass ich nach etwas suchte. Aber - ich hatte ja keine Ahnung, wie perfekt du bist, nicht bis heute Abend ...
    Natürlich, Jason, dachte ich, und mir wurden die Knie weich. Natürlich. Wenn du Fuyukis Medizin entdeckt hättest, dann wäre das ganz nach deinem Geschmack gewesen ... Du bist ein Dieb, stimmt's? Jemand, der nur des Nervenkitzels wegen stiehlt.
    Der Koffer war offen, und Jasons Habseligkeiten hingen heraus, ein Paar Turnschuhe, Jeans, ein Gürtel. »Ja«, hauchte ich, während die Dinge anfingen, Gestalt anzunehmen. »Ja - jetzt begreife ich.« All die Fragen und Antworten fügten sich nun mühelos zusammen. Etwas anderes hatte seit jenem Morgen an mir genagt, etwas in Bezug auf all die im Korridor verstreuten Sachen: die Kamera, Papiere, einige Fotos. Sein Pass. Sein Pass?
    »Jason«, flüsterte ich von der Tür aus, »warum waren all diese - diese Dinge ...«, ich deutete vage auf den Koffer,
    »... diese — du hast gestern Abend gepackt, stimmt's?
    Warum hast du gepackt, wenn nicht, weil du gewusst hast ...«
    »Wovon, zum Henker, redest du?«
    »...weil du gewusst hast ... dass sie vielleicht kommen würde?«
    »Leg einfach alles auf den Boden und verschwinde.«
    »Das ist es, nicht wahr? Dir ist klar geworden, was du getan hast. Dir ist plötzlich aufgegangen, wie ernst die Sache war, dass sie vielleicht kommen würde, weil du gestohlen hast...«
    »Ich habe gesagt, leg alles ...«
    »Weil du gestohlen hast.« Ich hob meine Stimme. »Du hast Fuyuki bestohlen, stimmt's?«
    Einen Moment lang dachte ich, er würde sich gleich vom
    Wandschrank aus auf mich stürzen, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen sagte er ärgerlich: »Na und? Halt mir jetzt bloß keine Moralpredigt. Die hängen mir zum Hals heraus, das kannst du mir glauben. Du hängst mir zum Hals heraus, du und all deine beschissenen Probleme und Obsessionen.«
    Ich ließ die Umhängetasche fallen und hielt mir mit beiden Händen den Kopf. Mir war, als würde ich keine Luft bekommen, und ich zitterte am ganzen Leib. »Du,

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