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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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du ... Warum? Warum hast du ...«
    »Darum!«, gab er ärgerlich zurück. »Einfach darum. Weil es da war. Plötzlich war dieses Scheißding, das du ...«, er stockte,
    »... es war da. Direkt vor meiner Nase. Und glaub mir, ich hatte ja keine Ahnung, welche verdammten Höllenqualen es mir bescheren würde, wenn ich mir das Scheißteil greife. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, mich zu verurteilen, also leg einfach das verdammte Zeug auf den Boden und ...«
    »O Jason«, sagte ich wie benommen, »was ist es?«
    »Das willst du wirklich nicht wissen. Und jetzt leg ...«
    »Bitte, bitte, sag mir, was es ist, wo du es versteckt hast.«
    Ich drehte mich um und schaute den verlassenen Korridor
    entlang. »Okay«, sagte ich. »Es ist okay.« Ich streckte meine Hände aus, bewegte meine Finger, so als würde die Antwort in der Luft liegen. »Ich werde es finden. Ich brauche dich nicht dazu. Du hast es gestern Nacht mit hergebracht, und es ist noch immer hier.«
    »Halt endlich die Klappe und mach das Scheißlicht aus!«
    Ich löste mich aus meiner Erstarrung, zog das Geldbündel aus der rechten Manteltasche und warf es in Jasons Zimmer. Es entrollte sich, und Geldscheine schwebten im Halbdunkel herab. »Da«, sagte ich. »Strawberry hat mir Geld für dich mitgegeben. Und, Jason ...«
    »Was?«
    »Viel Glück.«
    54
    Eines Morgens, einige Tage vor dem Besuch der Krankenschwester, war ich aufgewacht, hatte das Fenster geöffnet und in der Gasse darunter einen Ingenieur oder Gutachter mit Schutzhelm und Klemmbrett entdeckt, der sich das Haus anschaute. Der Gedanke, dass dieses Gebäude, nachdem es Erdbeben und Hungersnot überstanden hatte, am Ende vor Bauunternehmern kapitulierte, hatte mich sehr traurig gestimmt. Damals war ich davon ausgegangen, dass unser Leben hier in diesem Haus sich seinem Ende zuneigte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass es möglicherweise in einer gänzlich anderen, unerwarteten Weise passieren würde. Ich holte mir eine Taschenlampe aus der Küche und schlich lautlos den Korridor entlang. Ein paar Türen standen offen, und die meisten Fenster besaßen weder Vorhänge noch Fensterläden. Das Mickey-Rourke-Licht beleuchtete von der Straße her die Räume. Jemand, der das Haus von draußen beobachtete, konnte alles sehen, also bewegte ich mich geduckt. Von meinem Zimmer aus schaute ich vorsichtig auf die Gasse. Sie lag verlassen da. Die Reifenspuren und meine Fußabdrücke waren bereits unter einer neuen Schneeschicht verschwunden. Ich holte das Geld aus der Manteltasche und warf es auf die hinter der Klimaanlage versteckte Tasche. Es landete sanft inmitten einer kleinen aufwirbelnden Schneewolke. Dann zog ich mich eilig um, schlüpfte in eine Hose, flache Schuhe, einen Pullover und eine Jacke, deren Reißverschluss ich bis zum Kragen hochzog.
    Wo hast du es versteckt, Jason? Wo soll ich mit der Suche beginnen?
    Ich kauerte mich in die Tür, meine Hände um die Taschenlampe geklammert. Aus Jasons Zimmer hörte ich mehrere dumpfe Aufschläge - ich wollte mir gar nicht vorstellen, welche Manöver er vollführte. Aber nein, es ist nicht in deinem Zimmer-Jason, das wäre zu einfach. Der Lichtkegel der Taschenlampe wanderte über die anderen Türen, bis er schließlich auf die der Abstellkammer neben meinem Zimmer traf. Selbst wenn man keinen Plan, keine Spur hatte, musste man irgendwo anfangen. In geduckter Haltung schlich ich zu der Tür und schob sie Zentimeter um Zentimeter auf, darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Ich spähte hinein. Im Raum herrschte völliges Chaos. Die Krankenschwester und der Chimpira hatten alles durchwühlt, die verrottenden Futons, die Ballen alter zerschlissener Seide, eine Kiste mit gerahmten Fotos. Ich hockte mich in die Mitte der Kammer und unterzog alles, was mir in die Finger kam, einer hektischen Prüfung: Reiskocher, ein Karton mit vergilbten Taschenbüchern, einen Seiden-Obi, einstmals silber und blau, doch jetzt von braunen Flecken übersät und von Motten zerfressen. Als ich ihn berührte, zerfiel er, und schillernde Seidenschuppen schwebten, Schmetterlingsflügeln gleich, in einer Wolke nach oben.
    Ich hatte mich fast durch die gesamte Kammer gearbeitet, als etwas mich aufblicken ließ. Die Lichtkegel von Autoscheinwerfern huschten über die Decke. Angst ergriff mich. Ich knipste die Taschenlampe aus und steckte sie ein. Dann lauschte ich mit gespitzten Ohren nach draußen und versuchte zu erraten, was dort vor sich ging. Das

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