Tokio
Scheinwerferlicht zog an der Wand entlang und bewegte sich dann blitzschnell in einer geraden Linie seitwärts. Aus der Gasse drang kein Laut zu mir. Dann hörte ich, wie das Auto den Gang wechselte und davonfuhr. Ein orangefarbener Blinker spiegelte sich im Fenster. Der Wagen hatte im Schnee angehalten und darauf gewartet, in die Waseda einzubiegen. Ich schloss die Augen und lehnte mich erleichtert an die Wand.
»Mein Gott, Jason«, murmelte ich, »das hier bringt mich noch um.«
Es war sinnlos, diese blinde Suche fortzusetzen. Die Krankenschwester hatte diese Zimmer durchforstet und nichts gefunden. Wieso sollte es mir anders ergehen? Doch ich war schlau, und ich war entschlossen. Ich würde dort suchen, wo sie nicht gesucht hatte. Mach schon, befahl ich mir, versuch, dieses Haus mit anderen Augen zu sehen. Schau es mit Jasons Augen an. Was war ihm durch den Sinn gegangen? Worauf
war sein Blick als Erstes gefallen, als er gestern Nacht heimkam?
Das Bild des Hauses drehte sich in meinem Kopf um seine
eigene Achse. Ich sah durch es hindurch, ich sah Streben und Gebälk, ein von Kabeln und Drähten durchzogenes Holzgerüst. Ich sah die Fenster. Die Fenster. Die Fenster in der Galerie sagten etwas sehr Wichtiges. Sie sagten: Denk jetzt genau nach, erinnere dich an Jason gestern Nacht. Erinnere dich, als er vor deinem Zimmer stand. Wir streiten uns. Was dann? Er geht weg. Er ist wütend, und er ist noch immer betrunken, und er schlägt mit der Hand an alle Fensterläden. Er bleibt eine Weile stehen und schaut hinaus in den Garten - eins der Fenster war geöffnet gewesen, als ich aus meinem Zimmer kam -, raucht eine Zigarette. Dann dreht er sich um, geht zu seinem Zimmer und beginnt zu packen ...
Ich öffnete die Augen. Draußen konnte ich das Schneegestöber sehen, das den Garten unter einer weißen Decke begrub. Die Plastiktüte, die in den Ästen hing, war steif gefroren. Ich spulte meine Erinnerung ein Stück zurück und ließ sie noch einmal Revue passieren. Jason hatte am Fenster gestanden, in der Hand das, was er gestohlen hatte, und ...
Ich sah ihn jetzt ganz deutlich: wie er das Fenster öffnete, mit seiner Hand ausholte und eine Plastiktüte in die Nacht hinausschleuderte. Sie segelte über die Äste, überschlug sich im Wind und landete da, wo sie jetzt gefroren hing.
O Jason, dachte ich, während ich die Tüte anstarrte. Natür- lich. Ich weiß, wo es ist. Es befindet sich in dieser Tüte. Ich erhob mich, trat ans Fenster und legte meine Hände gerade in dem Moment an die Scheibe, als von unten ein Geräusch heraufdrang, das mir klar machte, dass die Haustür aufgebrochen wurde.
55
Nanking, 21. Dezember 1937
(der neunzehnte Tag des elften Monats)
In Nanking bewegt sich nichts außer den Schneewolken - alles, jeder Bach, jeder Berg, jeder Baum scheint erschöpft zu sein von diesem japanischen Winter. Selbst der Jangtse, der sich windende Drache, ist erstarrt, liegt reglos da, angestaut durch hunderttausend Leichen. Nichtsdestotrotz, hier ist er, der Eintrag, von dem ich dachte, dass ich ihn nie zu Papier bringen würde. Geschrieben an einem sonnigen Nachmittag in der Geborgenheit meines Hauses, als alles vorüber war. Es ist ein Wunder zu beobachten, wie meine Hand kraftvoll den Federhalter hält, aus dessen Spitze die Tusche fließt. Es ist ein Wunder, meine Hand unter die Jacke zu stecken und festzustellen, dass mein Herz noch immer schlägt.
Shujin verstaute in unserem Gepäck ein zusammengefaltetes Tuch, in das sie Essbesteck eingewickelt hatte: Stäbchen, ein paar Löffel, zwei Messer. Sie legte es zusammen mit einem schwarzen Babyarmband mit einem Anhänger, der ein Bild des Buddha zeigte, in eine kleine Geldschatulle aus Sandelholz. Ich musste sie davon abhalten, auch die rot lackierten Eier hineinzulegen. »Shujin«, sagte ich so sanft, wie ich vermochte,
»es wird kein Zuoyuezi oder Man yue geben.«
Sie antwortete nicht, nahm die Eier aus dem Beutel und trug sie in unser Schlafzimmer, wo sie sie in die Steppdecken bettete, so dass sie dort wie in einem kleinen Nest auf den Tag warteten, wenn wir heimkehren würden.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich und musterte besorgt ihr bleiches Gesicht, als sie wieder nach unten kam. »Geht es dir gut?«
Sie nickte stumm und streifte sich ein Paar Handschuhe über. Sie trug mehrere Schichten Kleider: zwei gewöhnliche Cheongsams, mit einer meiner Wollhosen darunter, dazu pelzgefütterte Stiefel. Unsere Gesichter waren mit Ruß
geschwärzt,
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