Tokio
Hindernis überwunden.
»Hier. Das hier ist die Stelle.« Rund hundert Meter vom Tor entfernt schaute ich zufällig durch einen Zaun und entdeckte jenseits eines verbrannten Flecken Brachlands einen Einschnitt in der Mauer, vor dem sich ein kleiner Hang aus Schutt und Geröll erhob. Ich packte Shujin aufgeregt am Arm. »Das hier ist es.«
Wir liefen zwischen den Häusern hindurch zur Hauptstraße, schauten rechts und links an der Mauer entlang. Nichts rührte sich.
»Sie warten auf der anderen Seite«, flüsterte Shujin. Ihre Hände wanderten unbewusst zu ihrem Bauch. »Was passiert, wenn sie auf der anderen Seite warten?«
»Nein«, sagte ich und versuchte, meine Stimme fest klin
gen zu lassen, versuchte, ihr in die Augen zu sehen und nicht auf ihre Hände zu blicken. Spürte sie eine Dringlichkeit, die sie mir nicht eingestand? »Ich verspreche dir, dass sie nicht dort sein werden. Wir müssen hier durch.«
Tief geduckt hasteten wir über das Stück Brachland. Der Handkarren schlingerte im Schnee und in der aufgewühlten Erde, so dass wir mehrmals ausrutschten und beinahe das Gleichgewicht verloren. Als wir die Mauer erreichten, kauerten wir uns hinter den Karren und warteten. Nichts bewegte sich, nur die Flocken wirbelten in dichten Schwaden umher.
Ich fasste Shujin am Arm und deutete den Schutthang hinauf. Es war nur eine kurze Kletterpartie, und ich bewältigte sie mühelos. Dann drehte ich mich um und streckte meine Hand nach dem Griff des Karrens aus. Shujin tat ihr Bestes, versuchte, ihn ein wenig den Geröllhang hinaufzuschieben, doch sie schaffte es nicht. Also musste ich wieder hinunterklettern und den Karren unter Aufbietung all meiner Kraft heraufzerren, während meine Füße auf dem Schutt ausglitten und die Steine in einer kleinen Lawine nach unten kullerten und dabei ein Geräusch verursachten, von dem ich glaubte, dass es alle japanischen Soldaten in Nanking aufwecken würde.
Schließlich erreichte ich den Kamm des Schutthangs und ließ den Karren die andere Seite hinunterrollen, bis ich mich nicht mehr weiter recken konnte und ihn loslassen musste. Er holperte über die Steine und kippte dann auf die Seite, so dass all unsere Habseligkeiten in den Schnee fielen. Ich streckte Shujin meine Hand hin und zog sie ganz langsam zu mir herauf. Anschließend stolperten und rutschten wir den Hang auf der anderen Seite der Stadtmauer hinunter, wo wir in aller Eile unsere Habseligkeiten einsammelten, in den Karren warfen und rasch in ein Ahornwäldchen flüchteten.
»Wir haben es geschafft«, keuchte ich, während wir uns unter die Bäume duckten. »Ich glaube, wir haben es geschafft.«
Zu unserer Rechten konnte ich schemenhaft einige armselige Hütten ausmachen, unbeleuchtet und wahrscheinlich unbewohnt. Ein Pfad führte im Schatten der Mauer entlang, und etwa zwanzig Meter entfernt, in Richtung des TaipingTors, erkannte ich eine an einen Baum gebundene Ziege. Abgesehen davon war weit und breit keine lebende Seele zu sehen. Ich lehnte meinen Kopf an den Baum und holte tief Luft: »Ja, wir haben es geschafft. Wir haben es geschafft.«
Shujin schwieg. Ihre Miene war nicht verdrossen, doch unnatürlich angespannt. Es kam nicht allein von der Angst. Sie hatte in den vergangenen Stunden kaum ein Wort gesprochen.
»Shujin? Bist du wohlauf?«
Sie nickte, wich jedoch meinem Blick aus. Mein Unbehagen wuchs. Es war mir klar, dass wir hier nicht bleiben konnten und so schnell wie möglich zu dem Haus des Salzkaufmanns gelangen mussten. »Komm«, sagte ich und nahm sie bei der Hand. »Wir müssen weiter.«
Wir traten aus dem Wäldchen und setzten uns in Bewegung, schauten uns dabei ungläubig um, so als wären wir Kinder, die durch eine Märchenwelt wanderten. Die Straßen wurden schmäler, die Häuser standen immer weiter voneinander entfernt. Der Purpurberg ragte stumm zuunserer Rechten empor. Wir hatten Nanking hinter uns gelassen!
Wir marschierten eilig weiter, hielten nur hin und wieder an, um in die Stille zu lauschen. Jenseits der fünf kleinen Inseln im Xuanwusee leuchtete ein Feuer zwischen den Bäumen. Wir hielten es für ein japanisches Lager und entschieden, den Pfad zu verlassen und uns entlang eines der vielen Hochwassergräben am Fuß des Berges voranzuarbeiten. Von
Zeit zu Zeit ließ ich Shujin allein und rutschte die niedrige Böschung hinunter, um mich zu vergewissern, dass wir uns weiterhin parallel zur Straße befanden. Wenn wir diese Richtung beibehielten, würden wir schließlich
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