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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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und wir hatten unsere Flüchtlingsbescheinigung an die Kleidung geheftet. An der Tür blieben wir stehen und schauten einander an. Wir sahen wie Fremde aus. Schließlich holte ich tief Luft und sagte: »Dann komm. Es ist soweit.«
    »Ja«, erwiderte sie ernst, »es ist soweit.«
    Draußen schneite es, doch der Mond schien hell durch die Flocken, so dass sie einen fröhlichen Tanz zu vollführen schienen. Wir kamen bis zur Zhongyang-Straße und hielten an. Ohne Liu Runde, das alte Ross, das sich überall auskannte, war ich unsicher. Etwa hundert Meter entfernt lag ein toter Hund auf dem Rücken, seine vier Beine wie ein umgedrehter Schemel in die Luft gereckt. Ein paar Häuser waren ausgebrannt, aber wir entdeckten keine Spuren im Schnee, und die Straße lag verlassen da. Ich wusste nicht, wie sich Liu die Flucht durch das Taiping-Tor gedacht hatte, verfügte über keinen inneren Kompass oder eine Vorstellung, was er im Sinn gehabt hatte. Ich trug seine Haarlocke in meinem Handschuh und hielt sie dort fest umschlossen. »Ja«, erklärte ich mit fester Stimme, »ja, dies ist der Weg. Dies ist der richtige Weg.«
    Wir marschierten schweigend nebeneinander her. Der Purpurberg ragte vor uns auf, zeichnete sich zugleich schrecklich und wunderschön gegen den Himmel ab. Wir bewegten uns
    langsam vorwärts, hielten uns immer dicht an den Hauswänden, jederzeit bereit, den Karren zurückzulassen und in den schmalen Gassen zwischen den Häusern zu ver-schwinden. Die einzigen Geräusche, die ich hörte, waren unsere Schritte und das Pochen meines Herzens. Einmal
    vernahm ich in der Ferne das Dröhnen eines Panzers, und
    erst als das Xuanwu-Viertel hinter uns lag, erspähten wir einen anderen Menschen - einen gebeugten alten Mann, der auf uns zuschlurfte, über den Schultern zwei schwere Körbe an einem Bambusjoch. Er war in die Richtung unterwegs, aus der wir kamen, und in jedem seiner Körbe lag ein schlafendes Kind. Er schien uns gar nicht wahrzunehmen, und als er ganz nah war, sahen wir, dass er weinte. Shujin blieb stehen.
    »Hallo, Herr«, flüsterte sie, als er sich auf gleicher Höhe mit uns befand. »Sind Sie wohlauf?«
    Er gab keine Antwort und verlangsamte weder seine Schritte, noch sah er Shujin an.
    »Hallo?«, wiederholte sie. »Sind Ihre Kinder wohlauf?«
    Ihre Worte verhallten ungehört. Der alte Mann humpelte weiter die Straße entlang, sein Blick starr auf einen Punkt irgendwo in der Ferne gerichtet.
    »Hallo!«, rief sie laut. »Haben Sie mich gehört? Sind die Kinder wohlauf?«
    »Ssssch!« Ich packte sie am Arm und zog sie rasch an den Straßenrand, voller Furcht, dass jemand sie gehört hatte.
    »Komm hier weg.«
    Wir standen in einem Hauseingang und folgten dem alten
    Mann mit unseren Blicken - ein Gespenst in einem alten Mantel.
    »Ich wollte nur wissen, ob es den Kleinen gut geht«, murmelte sie. »Ich weiß, ich weiß.«
    Wir wagten es nicht, einander in die Augen zu sehen, denn als wir dem Alten nachschauten, erkannten wir, dass eins der Kinder schlief, doch das andere, ein Knabe, zusammengesackt im rechten Korb lag. Er musste schon seit einiger Zeit tot gewesen sein.
    Als es Mitternacht wurde, hatten wir die Straßen nahe der Militärakademie erreicht. Ich kannte mich in diesem Viertel ganz gut aus, denn, als Student war ich auf meinem Weg zum Xuanwusee dort hindurchgekommen und wusste, dass die Stadtmauer nicht mehr weit sein konnte. In einem verlassenen Haus entdeckte ich eine angesengte Kleidertruhe aus Rosenholz, und als ich darauf stieg und durch die Lücken in den ausgebrannten Häusern spähte, konnte ich einen Blick auf das Taiping-Tor erhaschen.
    Ich beugte mich ein wenig weiter vor, bis ich einen größeren Abschnitt der Stadtmauer sehen konnte. Liu hatte Recht gehabt, die Mauer hatte unter schwerem Beschuss gestanden und war an mehreren Stellen eingestürzt. Wo sich einst das Tor befand, schoben jetzt zwei Wachposten Dienst — beleuchtet von Laternen, die auf gestapelten Sandsäcken standen. Außerhalb der Mauer hatte ein japanischer Panzer Stellung bezogen, seine Flagge schmutzig von Asche.
    Ich stieg von der Truhe herab. »Wir gehen nach Norden.«
    Ich deutete über die Häuser hinweg. »Dort entlang. Wir suchen uns eine Lücke an einer anderen Stelle der Mauer.«
    Und so schlichen wir eine Seitenstraße entlang, die parallel zur Stadtmauer verlief. Dies war der gefährlichste Teil unserer Flucht. Wenn es uns gelang, auf die andere Seite der Mauer zu gelangen, hätten wir das größte

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