Tokio
Chalukou erreichen.
Wir begegneten niemandem, weder Mensch noch Tier, doch
inzwischen nahm meine Sorge um Shujin zu. Sie wirkte angespannter denn je, und von Zeit zu Zeit wanderte ihre Hand zu ihrem Bauch.
»Hör zu«, sagte ich und verlangsamte meine Schritte, »das nächste Mal, wenn du ein wenig mehr Sicht hast, schau zur Biegung der Straße.«
»Was ist da?«
»Dort. Siehst du sie? Die Bäume?«
Sie starrte angestrengt in das Schneetreiben. In einem abgefackelten Zuckerrohrfeld stand eine gespenstisch aussehende, schneebedeckte Winde. Daneben verlief ein Feldrain mit einer Reihe von Büschen.
»Eine Maulbeerplantage. Wenn wir die erreicht haben, können wir schon die Ausläufer von Chalukou sehen. Wir sind fast da. Länger musst du nicht laufen, nur diese letzten paar Meter ...«
Ich verstummte.
»Chongming?«
Ich legte einen Finger an die Lippen und blickte auf das Gelände, das in die Dunkelheit hinabfiel. »Hörst du das?«
Sie runzelte die Stirn und konzentrierte sich auf die Stille. Nach einer Weile sah sie mich fragend an. »Was? Was hast du gehört?«
Ich schwieg, konnte ihr nicht sagen, dass ich das Geräusch des Teufels gehört hatte, der ganz in der Nähe in der dunklen Landschaft lauerte.
»Was ist denn?«
Zwischen den Bäumen zur Linken des Pfads tauchte der gleißende Lichtkegel eines Scheinwerfers auf, begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm. Keine zweihundert Meter entfernt schoss ein Motorrad mit einem Satz über den Kamm einer Böschung, fand sein Gleichgewicht auf dem höher gelegenen Gelände und vollführte inmitten einer großen Schneewolke eine scharfe Kehrtwende. Dann hielt es an, schien direkt uns gegenüber zum Stehen zu kommen.
»Lauf!« Ich fasste Shujin am Arm und schubste sie grob in den Wald oberhalb des Pfads. Dann packte ich den Handkarren und stolperte hinter ihr den Hang hinauf. »Lauf! Lauf!«
Hinter mir ließ der Fahrer den Motor aufheulen. Ich wusste nicht, ob er uns gesehen hatte, doch er schien die Maschine auf den Pfad zu lenken, auf dem wir uns befanden. »Lauf! Lauf weiter.« Ich stolperte durch den hohen Schnee, dabei noch immer den Karren hinter mir herziehend, der im Begriff war, seine Fracht zu verlieren.
»Wohin?«, flüsterte Shujin. »Wohin?«
»Nach oben! Den Berg hinauf.«
56
Als die Schritte langsam nach oben kamen, hätte ich meinen Mund halten können, hätte schweigend in mein Zimmer schleichen, aus dem Fenster klettern, in den alle Geräusche schluckenden Schnee verschwinden und niemals herausfinden können, was sich in der Plastiktüte befand. Stattdessen hämmerte ich an Jasons Tür und brüllte so laut ich konnte:
»Jason! JASON, LAUF WEG!« Als der abscheuliche Schatten der Krankenschwester aus dem Schummerlicht der Treppe auftauchte, rannte ich, noch immer rufend, in Panik den Korridor entlang. Ich hetzte zur Treppe, die in den Garten führte - »JASON!« -, stürmte die Stufen hinunter, stolpernd, halb fallend, prallte gegen die Fliegengittertür am Fuß der Treppe und stürzte hinaus in die verschneite Nacht.
Draußen blieb ich keuchend stehen, spähte zwischen den Ästen auf die Pforte zur Straße, dann wieder auf die Plastiktüte, die nur wenige Meter links von mir hing, direkt über dem Gehnicht-weiter-Stein. Ich blickte abermals zur Pforte, dann zur Tüte und anschließend hinauf zur Galerie. Ein Licht flammte auf, schien gleißend hinaus in den Garten.
Tu es ...
Ich bewegte mich seitwärts von der Tür weg, nicht durch
den Glyzinentunnel, sondern auf die Tüte zu, kämpfte mich durchs Gebüsch, während der Schnee von den Ästen fiel. Als ich tief in das Gestrüpp eingedrungen war und es immer undurchdringlicher wurde, hockte ich mich schwer atmend hin, während mein Puls raste.
Die Tüte schaukelte träge über mir. Jenseits davon spiegelten sich die Bäume und die wirbelnden Schneeflocken in den silbern schimmernden Fensterscheiben von Jasons Zimmer. Einige Augenblicke lang herrschte Stille, dann zerbarst etwas im Haus mit einem ohrenbetäubenden Krachen - eine Tür, die gewaltsam eingetreten wurde, oder umstürzende Möbelstücke -, und beinahe augenblicklich folgte ein Geräusch, das ich nie vergessen werde. Ein Geräusch, wie die Ratten im Garten es manchmal machten, wenn eine Katze sie mit ihren Krallen gepackt hatte. Jason schrie, ein schrecklicher, markerschütternder Schrei. Ich presste die Hände an die Ohren. Mein Gott! Mein Gott! Ich rang nach Luft, befürchtete, gleich ohnmächtig zu werden.
Die Tüte
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