Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
Vom Netzwerk:
im Baum bewegte sich. Es befand sich etwas darin, etwas in Papier Eingewickeltes. Ich konnte es jetzt deutlich erkennen. Jasons Schreie schwollen zu einem Crescendo an, schrillten durch die Nacht, hallten von den Wänden wider. Mir blieb nicht viel Zeit. Es musste jetzt sein. Konzentrier dich ... konzentrier dich. Wie Espenlaub zitternd stellte ich mich auf die Zehenspitzen und langte nach dem Ast, zog ihn herunter und griff nach der Tüte. Kleine Eisstücke fielen herab, das Plastik knisterte, und instinktiv zog ich die Hand zurück, entsetzt darüber, dass ich sie tatsächlich berührt hatte. Ich holte tief Luft, reckte mich und packte sie fester, gerade in dem Moment, als Jasons Schreie verstummten und sich Stille über das Haus senkte.
    Ich zerrte die Tüte ruckend vom Ast. Als sie sich löste, schnellte der Zweig zurück. Eiszapfen regneten auf mich herab, während ich mich wieder ins dunkle Gestrüpp kauerte - die gefrorene Tüte fest umklammert. Hat sie mich gehört?, dachte ich, als ich zur Galerie hinaufschaute und mich fragte, wo die Krankenschwester war, was die Stille im Haus zu bedeuten hatte. Jason, warum bist du so ruhig? Schweigst du, weil du ihr gesagt hast, wo sie suchen muss?
    Ein Fenster flog auf. Gleich darauf tauchte der Umriss der Krankenschwester in der Galerie auf. Ich konnte ihr Gesicht durch die Bäume nicht genau erkennen, doch die Reglosigkeit, mit der sie dastand, verriet, dass ihre Gedanken um den Garten kreisten. Vielleicht betrachtete sie auch die Bäume und fragte sich, wo die Plastiktüte geblieben war. Ich wandte ganz langsam den Kopf und sah den Schatten des Astes, den ich bewegt hatte, zehnfach vergrößert auf das Salt-Gebäude projiziert. Die Krankenschwester reckte die Nase in die Luft und schnüffelte. Ich kroch tiefer in das Dickicht hinein, brach Zweige ab, tastete blind nach etwas Schwerem.
    Sie drehte sich um und spazierte langsam den Korridor entlang, trommelte mit ihrem langen Fingernagel im Vorbeigehen an jedes Fenster. Sie ging in Richtung der Gartentreppe. Hinter ihr bewegte sich eine zweite schemenhafte Gestalt - der Chimpira. Neben meinem Fuß ertastete ich einen Trittstein. Ich zerrte hektisch daran, bis meine Finger bluteten, fummelte ihn endlich heraus und drückte ihn, zusammen mit der Tüte, an meine Brust. Ich versuchte, mir im Geist ein Bild des Gartens zu machen. Selbst wenn es mir gelang, mich durch das dichte Gestrüpp zu kämpfen, war die Pforte noch immer einen Fünfzehnsekunden-Spurt quer durch den Garten entfernt. Ich war hier sicherer, wo das Gebüsch meine Spuren verbarg, und wenn ich ...
    Mir blieb das Herz stehen. Sie hatten die Treppe entdeckt. Ich hörte ihre Schritte die Stiege herunterhallen. Sie kommen, um mich zu holen, schoss es mir durch den Kopf. Ich bin als Nächste dran. Dann zog jemand die Tür auf, und bevor ich mich davonmachen konnte, tauchte das Profil der Krankenschwester zwischen den schneebedeckten Ästen auf. Sie duckte sich ein wenig, als sie den Glyzinentunnel betrat. Dann durchquerte sie ihn mit schnellen Schritten, bis sie schließlich am anderen Ende wieder auftauchte. Sie stand hoch aufgerichtet im schneebedeckten Steingarten, streckte ihren Kopf in zuckenden, kleinen Bewegungen in die Luft, wie ein witternder Hengst. Ihr Atem dampfte wie von großer Anstrengung.
    Ich wagte kaum zu atmen. Sie würde es spüren, ihre Sinne waren so übernatürlich geschärft, dass sie das Wachsen meiner Haare hören würde, vielleicht sogar das Kreisen meiner Gedanken. Der Chimpira wartete im Eingang, beobachtete die Krankenschwester, die ihren Kopf erst in meine Richtung wandte, dann zu den Bäumen und schließlich in die entgegengesetzte Richtung - zur Pforte. Nach kurzem Zögern setzte sie*ihren Weg durch den Garten fort, blieb dabei immer wieder stehen und schaute sich um. Einen Moment lang, als sie den Tunnel betrat, verschwand sie in einem Wirbel aus Schneeflocken. Dann hörte ich, wie sie den Riegel aufzog und die Pforte sich mit einem lang gezogenen Knarren öffnete. Das Schneegestöber hörte auf, und ich sah sie völlig reglos, gedankenverloren dastehen.
    »Was ist?«, zischte der Chimpira, und ich vermeinte, Nervosität aus seiner Stimme herauszuhören. »Sehen Sie etwas?«
    Die Krankenschwester gab keine Antwort. Sie rieb mit ihren Fingern über den Riegel, hob sie an die Nase und schnüffelte daran, wobei ihr Mund leicht offen stand, als würde sie sich den Geruch auf der Zunge zergehen lassen. Sie streckte ihren Kopf zur

Weitere Kostenlose Bücher