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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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vielleicht schließe ich es in einem dieser Schränke ein, wo ich es vergessen kann, wo es mich nie wieder ablenken wird.
    Oder, und hier muss ich meine Stimme zu einem Flüstern
    senken, oder ich lese es. Ich schlage es auf und lese. Nur einen Satz. Nur einen Absatz, denn welchen Sinn hat OH , diese vierzigtausend Worte, vierzigtausend Worte für das Massaker, mit mir herumzuschleppen, wenn sie nicht dazu bestimmt sind, je gelesen zu werden? Was können mir diese Worte schon anhaben? Können sie sich in mein Fleisch bohren? Und wen kümmert es, ob ich mein Gelübde breche und fett davon werde, dass ich diese Worte verschlinge? Vielleicht sind Gelübde dazu da, gebrochen zu werden ...
    Ich frage mich: Werde ich mich selbst wiedererkennen? Ich frage mich: Kümmert es mich?

    Nanking, 28. Februar 1937 (der
    achtzehnte Tag des ersten Monats nach
    Shujins Kalender)
    Was ist mit der Sonne passiert? Etwas in der Natur muss aus dem Lot geraten sein, um den Planeten so aussehen zu lassen. Ich sitze an diesem vertrauten Fenster, dem einzigen Fenster im Haus, das Ausblick nach Osten über die Stadt bietet, und mich überkommt eine schreckliche Beklommenheit. Meine Hand zittert beim Schreiben. Die Sonne ist rot. Und schlimmer noch
    - durch irgendeine List, eine Verschwörung der Atmosphäre und der Landschaft, sind ihre Strahlen symmetrisch angeordnet, so dass sie sich in breiten roten Streifen über den Himmel ziehen. Es sieht genauso aus wie ... genauso wie ... O Gott! Was ist denn geschehen? Ich wage noch nicht einmal, die Worte niederzuschreiben. Ist dies ein Omen am Himmel? Ich muss mich abwenden und versuchen, meine Gedanken nicht in dieser Weise abschweifen zu lassen. Ich laufe Gefahr, wie Shujin zu klingen, wie sie zu werden - mich hoffnungslos im Aberglauben zu verlieren. Wirklich, ich muss mich immer von neuem über Shujin wundern. Wenn sie jetzt wach wäre, würde sie ihren Kopf zur Seite neigen, nachdenklich den Horizont betrachten und augenblicklich eine ihrer alten Dorfweisheiten aufsagen: den Volksglauben, dass zehn Sonnen abwechselnd im Osten aufgehen und dann nacheinander durch die Unterwelt schwimmen, um wieder in den Osten zu gelangen, um dort von neuem aufzugehen. Sie würde diese Sonne eine Weile betrachten und dann verkünden, dass während des Schwimmens durch die Unterwelt etwas mit ihr passiert, dass sie das Opfer einer Unbill geworden sei - ein Omen dafür, dass etwas Schreckliches bevorstand. Denn wenn es etwas gibt, von dem sie sich um nichts in der Welt abbringen lässt, dann dies: der Glaube, dass sich die Zeit um uns herum bewegt wie eine Tonne. Sie rollt vor unseren Augen hoch und dreht sich einmal ganz im Kreis herum. Shujin sagt, und sie wird nie müde, dies zu betonen, dass sie in die Zukunft sehen könne, aus dem simplen Grund, dass die Zukunft unsere Vergangenheit sei.
    Ich streite mich nicht mit ihr über ihren Bauernaberglauben, fühle mich hilflos angesichts ihrer Vehemenz. »Versuch nicht, sie zu ändern«, hatte meine Mutter gesagt, bevor sie starb.
    »Aus einem Hundemaul werden niemals Elefantenzähne wachsen. Das weißt du.«
    Doch so nachgiebig ich auch geworden sein mag, ich bin
    kein völliger Narr. Es ist vielleicht nicht nötig, sie zu ändern, doch ebenso wenig geht es an, sie in ihren hysterischen Irrungen zu bestärken. Es besteht zum Beispiel keine Notwendigkeit, sie jetzt zu wecken und hierher in mein Arbeitszimmer zu holen, wo ich auf meinem Diwan sitze und angstvoll auf die Sonne starre.
    Sie hängt dort, wie ein Riese, der auf die Stadt herabstiert, furchterregend und rot. Shujin würde es ein Omen nennen. Sie würde irgendetwas Lächerliches tun, wenn sie sie sähe, würde vielleicht kreischend durchs Haus laufen. Also werde ich es für mich behalten. Ich werde niemandem erzählen, dass ich heute Zeuge gewesen bin, wie die chinesische Sonne in Form und Farbe der Hi No Maru aufgegangen ist - der roten Scheibe auf der Flagge der kaiserlichen japanischen Armee.
    Also! Es ist geschehen! Ich sollte das Buch von mir schleudern und mein Gesicht vor Scham verhüllen. Ich habe mein Gelübde gebrochen. Wie seltsam, nach all diesen Jahren so plötzlich und unerwartet kapituliert zu haben, an einem ganz gewöhnlichen Sommervormittag. Wie seltsam, der Verführung erlegen zu sein. Jetzt, während meine Finger an den Seiten des Buches hinabgleiten, frage ich mich, ob ich etwas gelernt habe. Das Papier ist alt, die Tinte verblasst,
    und meine Kaishu- Schrift mutet altmodisch an. Doch

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