Tokio
gerade einmal drei oder vier sind. Nur damit das Kind den englischen R-Laut aussprechen kann.« Er nickte.
»Also. Sagen Sie mir, was halten Sie von meinem Englisch?«
»Es ist ausgezeichnet.«
»Selbst ohne reiche Eltern, ohne Verstümmelung?« »Ja.«
»Das habe ich durch harte Arbeit erreicht. Nichts weiter. Zwanzig Jahre harte Arbeit. Und wissen Sie, was? Ich habe nicht zwanzig Jahre Englisch gelernt, nur um dann meine Worte zu vergeuden. Also, ich sagte eine Woche. Oder sogar zwei. Und genau das habe ich auch gemeint.«
Er hinkte davon. Ich lief ihm nach.
»Hören Sie, es tut mir Leid. Eine Woche. Das ist in Ordnung, das ist in Ordnung.« Ich überholte ihn, drehte mich zu ihm um und hielt die Hände hoch, um ihn zu stoppen. »Ja. Eine Woche. Ich ... ich ... ich melde mich bei Ihnen. Ich komme in einer Woche wieder.«
»Ich werde mich nicht Ihrem Zeitplan unterwerfen und melde mich bei Ihnen, wenn ich soweit bin.«
»Ich rufe Sie an. In einer Woche.«
»Vergessen Sie es.« Shi Chongming machte einen Schritt zur Seite, um mir auszuweichen.
»Warten Sie.« Meine Gedanken überschlugen sich. »Na gut, in Ordnung.« Ich klopfte hektisch meine Kleidung ab, während ich überlegte, was ich tun sollte. Als meine Hand die Tasche meiner Strickjacke berührte, hielt ich inne. Da war etwas. Das abgerissene Stück Zigarettenschachtel, das Jason mir gegeben hatte. Ich holte tief Luft. »In Ordnung«, sagte ich und holte es heraus. »Meine Adresse. Das hier ist sie. Geben Sie mir nur einen Moment, damit ich sie Ihnen aufschreiben kann.«
Jemand ist in mein Leben getreten. Aus heiterem Himmel, wie es scheint. Sie hätte nicht unwillkommener sein können. Zweimal hat sie mich überrumpelt, hat mich attackiert wie eine Hornisse, die sich nicht vertreiben lässt. Zweimal! Sie schreit, und sie bettelt, sie fuchtelt mit den Armen herum und sieht mich hasserfüllt an, als wäre ich persönlich für alles Übel auf der Welt verantwortlich. Sie sagt, sie will über die Dinge sprechen, die in Nanking passiert sind.
»Will«? Nein, wahrlich, »will« ist kaum das passende Wort. Es geht viel tiefer als das. Es ist eine Krankheit. Sie ist besessen von dem Drang, alles über Nanking zu erfahren. Wie sehr ich jene paar Male in Jiangsu bedaure, jene fernen Tage vor der Kulturrevolution, als ich so zufrieden auf meinem Posten an der Universität saß, dass ich übermütig wurde und mir eine unverzeihliche Sorglosigkeit die Zunge löste! Wie ich mich jetzt für die wenigen vagen Anspielungen auf die Ereignisse des Winters von 1937 verfluche. Ich war überzeugt, dass sie nicht weitergetragen werden würden. Ich vertraute darauf, dass niemand etwas ausplaudern würde. Wie konnte ich denn wissen, dass meine achtlosen Worte eines Tages ihren Weg in eine wissenschaftliche Zeitschrift im Westen finden würden, nur um dann von dieser verrückten Fremden entdeckt und ans Licht gezerrt zu werden? Diese Sache treibt mich an den Rand der Verzweiflung. Ich habe ihr zweimal gesagt, sie solle mich in Frieden lassen. Doch sie hört einfach nicht auf mich, und heute hat sie mich so bedrängt, dass ich gegen meinen Willen einem weiteren Treffen mit ihr zustimmte, nur damit sie von mir abließ.
Aber - und das ist die Krux des Ganzen - was mich wirklich plagt, geht tiefer als ihre bloße Beharrlichkeit, hat alles für mich aus dem Lot gebracht. Ich fühle eine dumpfe Beklommenheit in mir, und mir drängt sich die Frage auf, ob sie ein Vorbote ist, ob ihr Auftauchen hier, ihre Entschlossenheit, in der Asche von Nanking zu stochern, bedeutet, dass das letzte Kapitel näher ist, als ich dachte.
Welch ein Wahnsinn! All die Jahre habe ich mein Gelübde
gehalten, niemals jenen Winter wieder aufleben zu lassen, niemals die Worte zu lesen, die ich in jenem Jahr niederschrieb. Ich habe mich strikt daran gehalten, doch nichtsdestotrotz holte ich heute, als ich nach dem Gespräch mit ihr in mein Büro zurückkehrte, aus einem Grund, der sich gänzlich meinem Verständnis entzieht, das abgewetzte alte Tagebuch aus der Schublade und legte es auf den Schreibtisch, wo ich es sehen kann, aber nicht berühre. Warum, frage ich mich, warum brenne ich jetzt darauf, die erste Seite aufzuschlagen? Ich muss all meine Willenskraft einsetzen, um nicht die Hand auszustrecken und es zu lesen. Welch unheilvolles Verlangen hat diese Fremde geweckt? Das ist die Lösung - ich werde es vergraben. Ja. Irgendwo - vielleicht hier, unter den Stapeln von Büchern und Unterlagen. Oder
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