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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Ich fragte mich, ob sie auch nur die leiseste Ahnung hatten, auf welchen Grundfesten ihr Leben aufgebaut war. Ich versuchte, mir ihre Gesichter über den hohen Kragen der Uniformen der kaiserlichen japanischen Armee vorzustellen, in den verschneiten Straßen von Nanking, während einer von ihnen mit seinem funkelnden KafanaSchwert ausholte ...
    »Was ist mit dir?« »Was ist mit mir?«
    Sie sahen einander an, denn solche Unhöflichkeit waren sie nicht gewöhnt. Jemand versetzte mir unter dem Tisch einen Tritt. Ich blickte hoch und sah, dass Irina mich anguckte und eine Grimasse schnitt. Sie deutete mit einem Nicken auf meinen Busen und schob mit beiden Händen ihre eigenen Brüste hoch, ihre Schultern durchgedrückt. »Setz dich gerade hin«, hauchte sie stumm. »Streck deinen Busen raus.«
    Ich drehte mich zu dem Mann neben mir um, holte tief Luft und platzte mit dem Ersten heraus, was mir in den Sinn kam:
    »Hat Ihr Vater in China gekämpft?«
    Sein Lächeln verschwand. Jemand hielt den Atem an. Die
    Hostessen runzelten verwirrt die Stirn, und Irina stellte mit einem entsetzten klink ihren Drink hin. Der Mann neben mir dachte über das, was ich gesagt hatte, nach. Schließlich atmete er tief durch und sagte: »Was für eine merkwürdige Frage. Warum fragst du?«
    »Weil«, sagte ich kleinlaut, »weil es das ist, was ich neun Jahre lang studiert habe. Neun Jahre, sieben Monate und neunzehn Tage.«
    Er schwieg einen Moment und musterte mein Gesicht, versuchte darin zu lesen. Es schien, als würden alle am Tisch den Atem anhalten. Sie saßen vorgebeugt auf ihren Stuhlkanten und warteten gespannt, wie er wohl reagieren würde. Er ließ
    sich viel Zeit, bevor er sich eine Zigarette ansteckte, ein paar Züge paffte und sie dann sorgfältig im Aschenbecher ablegte.
    »Mein Vater war in China«, erklärte er ernst. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »In der Mandschurei. Und so lange er lebte, hat er nicht darüber gesprochen, was dort passiert ist.« Der Rauch seiner Zigarette stieg in einer langen Fahne zur Decke auf. »Aus meinen Schulbüchern waren alle Erwähnungen entfernt worden. Ich erinnere mich daran, wie wir die Seiten gegen das Licht hielten, um festzustellen, dass wir auch wirklich nicht lesen konnten, was unter den geweißten Stellen geschrieben stand. Vielleicht«, sagte er, ohne dabei jemanden direkt anzusehen, »vielleicht kannst du mir etwas darüber berichten.«
    Ich hatte hilflos mit offen stehendem Mund dagesessen, wie gelähmt vor Angst, was er wohl sagen würde. Ganz langsam dämmerte mir, dass er nicht wütend war, und die Farbe kehrte in mein Gesicht zurück. Ich beugte mich aufgeregt vor. »Ja«, erwiderte ich eifrig. »Natürlich. Ich kann Ihnen alles erzählen, was Sie wissen wollen. Alles ...« Plötzlich überschlugen und verkeilten sich die Worte in meiner Kehle, so begierig waren sie darauf herauszuplatzen. Ich strich mein Haar hinter die Ohren und legte die Hände auf den Tisch. »Also, ich denke, das Interessanteste war, was in Nanking passiert ist. Nein. Um genau zu sein, nicht das, was in Nanking direkt passiert ist, aber ... lassen Sie mich anders beginnen. Das Interessanteste war, was auf dem Marsch der japanischen Armee von Shanghai nach Nanking passiert ist. Niemand hat nämlich je wirklich verstanden, was passiert ist, müssen Sie wissen, warum sie sich so gewandelt haben ...«
    Und so fing ich an zu reden. Ich redete und redete bis tief in die Nacht hinein. Erzählte von der Mandschurei und Shanghai und Einheit 731. Vor allem erzählte ich natürlich von Nanking. Die Hostessen saßen gelangweilt da, inspizierten ihre Fingernägel oder tuschelten miteinander und warfen mir böse Blicke zu. Doch die Männer hingen an meinen Lippen, versunken in einem fast unheimlich anmutenden Schweigen, ihre Gesichter angespannt vor Konzentration. Sie sagten an jenem Abend nicht mehr viel und verließen schweigend den Klub. Am Ende des Abends, als Mama Strawberry mit den
    Trinkgeldern zu uns getrippelt kam, hatte sie ein besonderes Lob für mich. Die Männer hatten mir das höchste Trinkgeld gegeben - über dreimal so viel wie den anderen.

    8
    Nanking, 1. März 1937
    Die Zeit, die ich damit vergeude, mich über meine Frau zu ärgern! Darüber nachzugrübeln, wie verschieden wir sind!
    Vielen meiner Kollegen ist diese altmodische arrangierte Ehe ein Gräuel, denn sie steht im Widerspruch zu all ihren Idealen. Und um ehrlich zu sein, ich selbst hatte immer erwartet, dass ich eine

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