Tokio
offen stehenden Fensterläden geradewegs auf die Straße blicken. Und was sehe ich? Eine Frau schiebt einen Handkarren in Richtung des Shangyuan-Tors. Auf dem Karren türmen sich Matratzen, Möbel und Sojabohnensäcke. Ganz oben auf dem Stapel ist ein Toter festgebunden, praktisch nackt. Ihr Ehemann vielleicht oder ein Verwandter, der auf das Geld für eine Beerdigung gewartet hat. Das muss man sich mal vorstellen! Sind wir alle verrückt geworden? Sind wir so begierig darauf, unsere Stadt aufzugeben, dass wir nicht einmal mehr unsere Toten begraben können?
Nanking, 10. Dezember 1937
Vor mir liegen zwei kleine Karten. Flüchtlingsbescheinigungen. Eine für Shujin, eine für mich. Wenn der Tag kommt und die Japaner einmarschieren, werden wir sie an unsere Kleidung heften. Ich habe sie heute Morgen bei der Red-SwastikaGesellschaft abgeholt. Als auf meinem Rückweg die Sonne aufging, nahm ich meine Mütze ab. Einer der Dozenten hat mir das geraten. Er hat sich entschieden, nicht in Nanking zu bleiben. Er will sich zum Fluss aufmachen, in der Hoffnung, dass er irgendwo flussaufwärts von Xiaguan durchstoßen und nach Chongqing flüchten kann. Als ich mich von ihm verabschiedete, sah er mich eindringlich an und sagte: »Wenn du heute draußen in der Sonne bist, nimm deine Mütze ab. Lass deine Stirn von der Sonne bräunen. Ich hab gehört, dass sie den Zivilisten die Mützen vom Kopf reißen, und wenn jemand eine blasse Stirn hat, dann betrachten sie ihn als Soldaten.«
»Aber wir sind Zivilisten«, entgegnete ich.
»Ja«, sagte er und sah mich fast mitleidig an. »Ja.«
»Wir sind Zivilisten«, wiederholte ich, als er davonging. Ich musste meine Stimme heben. »Und wenn es soweit kommt,
dann werden uns die Japaner als solche anerkennen und uns in Frieden lassen.«
Ich stand eine Weile wütend und mit hämmerndem Herzen
da, während er den Korridor entlang verschwand. Es dauerte lange, bevor ich hinaus auf die Straße trat. Ich ging ein kurzes Stück, bis ich außer Sichtweite des Campus war, und nahm dann hastig meine Mütze ab, stopfte sie in die Tasche und ging den Rest des Wegs mit blanker Stirn, das Gesicht in die Sonne gereckt. Dabei fielen mir die Worte ein, die meine Mutter auf dem Totenbett gesprochen hatte: »Wende dein Gesicht immer der Sonne zu, mein Junge. Das Leben ist kurz, vergiss das nie. Wende dein Gesicht immer der Sonne zu, wenn du die Gelegenheit hast.«
In der Nacht ist der erste Schnee gefallen. Die ganze Nacht über lauschte ich der gedämpften Stille, während Shujin völlig reglos neben mir lag. Sie muss jetzt auf der Seite liegen, weil ihr Bauch dick wird, und ich kann ihre kaltenFüße und Finger fühlen, wenn sie unabsichtlich mei ne Haut berührt. Sie ist dieser Tage so still, wirkt beinahe durchscheinend, so als würde sie sich eines Tages einfach Hilflosen und ein Kind an ihrer Stelle zurücklassen. So gefasst.' Vielleicht denkt sie, dies wären die entscheidendenDinge,wenn unser Kind menschlichen Urkräften - Liebe, Wahrheit, Mitgefühl und Gerechtigkeit - ausgesetzt ist. Vielleicht muss sie Ruhe wahren und sich konzentrieren, damit diese Kräfte in ihrer reinsten Form auftreten. Sie spricht kaum noch davon wegzugehen. Hin und wieder fragt sie mich: »Was geschieht, Chongming? Was geschieht im Osten?« Doch ich habe nur Lügen für sie.
»Nichts. Nichts. Alles ist so, wie es sein soll. General Tang ist Herr der Lage.«
Als wir an diesem Morgen die Bettvorhänge aufzogen, waren die Fensterscheiben beschlagen, und draußen lag eine dicke Schneeschicht. Gewöhnlich wäre der Schnee um die Mittagszeit längst von den Karren in Matsch verwandelt worden, doch heute ist Nanking gespenstisch still. Nur die Armeefahrzeuge rumpelten durch die Straßen, und als ich zu dem Markt neben den Ruinen des Ming-Palastes ging, um Schlösser für die Türen und Nägel zum Verbarrikadieren des Hauses zu besorgen, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass nur eine Hand voll Händler ihre Stände aufgebaut hatten, jeder mit einer Kohlenpfanne neben sich, auf deren Glut die Schneeflocken zischend schmolzen. Ich kaufte
Vorhängeschlösser bei einem Händler, der das Zehnfache des üblichen Preises verlangte. Sie waren mit ziemlicher Sicherheit gestohlen, doch er schien keine Schwierigkeiten zu haben, sie an den Mann zu bringen.
»Mr. Shi!«
Ich drehte mich um und sah zu meiner Überraschung Liu
Runde, einen Literaturprofessor von der Shanghai-Universität, hinter mir stehen. Ich hatte ihn nur
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