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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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sinnierte, hatten sich die Russinnen angezogen, und jetzt gingen sie hinunter in den Garten. Sie mussten mich dort draußen gesehen und entschieden haben, dass sie es mir gleichtun und sich ebenfalls hinauswagen konnten. Svetlana trug nur einen winzigen limonengrünen Bikini und einen Strohhut, den sie mit ihrer freien Hand festhielt. Nachdem ich mich abgetrocknet und angekleidet hatte, stand ich oben in der Galerie und beobachtete sie, sah ihren gebräunten Körper zwischen den Blättern aufblitzen, während sie sich einen Weg durch das Gebüsch bahnte. Irina folgte dahinter in einem Bikinioberteil, rosa Shorts, großer Sonnenbrille und einer neonpinkfarbenen Baseballmütze, die verkehrt herum auf ihrem Kopf saß, damit ihr Nacken vor der Sonne geschützt war. Unter dem Träger ihres Bikinioberteils steckte eine Schachtel Zigaretten. Sie kämpften sich beide quiekend und zankend durch das Gestrüpp und hoben dabei die in hochhackigen Schuhen steckenden Füße wie seltsame Stelzvögel, bis sie schließlich blinzelnd in den Sonnenschein hinaustraten. »Sonne, Sonne!«, jubilierten sie im Chor und rückten ihre Sonnenbrillen zurecht, während sie in den Himmel starrten.
    Ich drückte meine Nase an der Scheibe platt und schaute ihnen zu, während sie sich mit Sonnenlotion einrieben, Packungen KissMint-Kaugummi mit Kirschgeschmack aufrissen und Bier aus Dosen tranken, die sie sich aus einem der Automaten auf der Straße besorgt hatten. Svetlana hatte knallroten Nagellack auf ihren Zehen. Ich starrte auf meine weißen Füße und fragte mich, ob ich wohl je den Mut hätte meine Nägel zu lackieren. Urplötzlich überkam mich ein brennendes, übermächtiges Gefühl, das mich erschauern ließ - ausgelöst von Gedanken über vergeudete Zeit und wie dankbar sie ihren Sternen sein sollten, dass sie sich in ihrer Haut so wohl fühlten. Dass sie sich bewegen, strecken und die Sonne genießen konnten und niemand sie des Wahnsinns beschuldigte.
    Und in jenem Moment traf ich eine Entscheidung. Solange
    ich angezogen, solange mein Bauch verhüllt war, gab es nichts, kein physisches Anzeichen, das es verriet. Wenn man es nicht wusste - und niemand hier in Tokio wusste es -, konnte man mich ansehen und sagen, dass ich normal wäre. Ich konnte genauso »sexy« sein wie alle anderen.
    20
    Ich musste unablässig an Fuyuki denken. Immer, wenn die Aufzugglocke klingelte und sich die Hostessen auf ihren Stühlen umdrehten, um im Chor durch den Klub zu rufen:
    »Irasshaimase! Willkommen!«, hockte ich angespannt auf der Stuhlkante, und mein Puls raste, während ich überzeugt war, dass ich im nächsten Moment seinen Rollstuhl in die Bar gleiten sehen würde. Doch er kam weder an diesem noch am nächsten Abend in den Klub.
    In den folgenden Tagen holte ich mehrmals seine Visitenkarte hervor und betrachtete sie. Manchmal versank ich in einer Art Trance, während ich sie wieder und wieder herumdrehte. Sein Name bedeutete Winterbaum, und etwas an der Kombination aus der Kalligraphie und der Struktur der Schriftzeichen war so mächtig, dass ich nur einen flüchtigen Blick darauf werfen musste, um vor meinem geistigen Auge mit bestechender Klarheit einen tief verschneiten Wald zu sehen. Ich zeichnete das Kanji mit meinen Kalligraphiepinseln nach, während ich mir einen Berghang, einen Tannenwald, Schneewehen und Eiszapfen an den Bäumen vorstellte.
    Jetzt, wo ich wusste, was Shi Chongming dazu bringen würde nachzugeben und mir den Film zu zeigen, jetzt, wo ich den Sprung ins kalte Wasser wagen würde, war ich zu einer ernsthaften Schülerin der Erotik geworden. Ich fing an, auf der Straße die japanischen Mädchen in ihren viktorianischen Petticoats und zierlichen Pumps, ihren langen Stulpen und kurzen Wickelröcken zu bewundern. Im traditionellen Japan war Erotik etwas Schmales und Blasses wie ein Blütenstängel - das Erotische war der winzige Flecken nackter Haut im Nacken einer Geisha. Überall auf der Welt ist es etwas anderes. Ich beobachtete stundenlang die Russinnen mit ihren Stöckelschuhen und ihrer orangefarbenen Sonnenbräune.
    Ich hatte eine Menge Lohntüten angesammelt, die einfach in einer Handtasche im Kleiderschrank lagen, wo sie nichts taten, außer mich nervös zu machen. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und ging einkaufen. Ich besuchte märchenhafte Geschäfte in Ginza und Omote-sando, Schatzhöhlen voll gestopft mit paillettenbestickten Pantoffeln, rosa Negliges, Hüten mit purpurnen Marabufedern und rosaroten

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