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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Geruch von bratendem Fleisch! Irgendwo in der Nähe briet jemand Fleisch. Der Geruch ließ mich aufspringen und zu den Fensterläden eilen, wo ich zitternd stand, meine Nase an die Ritzen presste und gierig die Luft einatmete. Ich stellte mir eine Familie vor - möglicherweise in der Nachbargasse -, die am Tisch saß und erwartungsvoll auf Schüsseln mit duftigem Reis, Klößen und saftigem Schweinefleisch schaute. Konnten es die Diebe sein, die kochten, was sie uns gestohlen hatten? Wenn sie es waren, dann hatten sie die Legende vom Huhn des Bettlers vergessen, sie hatten vergessen, was jeder Dieb in Jiangsu wissen sollte
    -dass man gestohlenes Essen unterirdisch braten sollte und nicht im Freien, wo jeder es riechen konnte.
    Der Duft lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
    Und er hat die Sache für mich entschieden. Wenn sich die Leute sicher genug fühlen, so offen Essen zu kochen, so leichtfertig den Geruch durch die Straßen ziehen zu lassen, dann kann der Friede nicht mehr lange auf sich warten lassen. Es muss möglich sein, sich auf die Straße zu wagen. Ich werde jetzt hinausgehen und Shujin etwas zu essen besorgen.
    25
    Keine Pflanze. Das hatte Shi Chongming gesagt. Keine Pflanze. Darüber dachte ich an jenem Vormittag nach, während ich
    vornübergebeugt auf dem Gartenstuhl über meinen Lehrbüchern brütete. Ich hatte fast eine Stunde lang gelesen, als etwas mich ablenkte. Knapp einen halben Meter von meinen Füßen entfernt kämpfte sich eine Zikadennymphe aus dem Boden, zuerst die Fühler, dann ein winziges Gesicht wie das eines neugeborenen Drachen. Ich legte mein Buch beiseite und beobachtete sie. Sie krabbelte an einem Stück verrottendem Holz hinauf und machte sich dann, nach einigen Minuten Rast, an die mühsame Arbeit, ihre Flügel aus ihrem Panzer zu ziehen, einen nach dem anderen, quälend langsam, während die Haut in schillernden Schuppen abblätterte. Ich habe in einem der Bücher gelesen, dass Zikadenflügel ein traditionelles Heilmittel gegen Ohrenschmerzen sind. Ich dachte an das getrocknete Pulver, das an den Seiten von Fuyukis Glas geklebt hatte. Es ist keine Pflanze, nach der Sie suchen . Wenn keine Pflanze, was dann?
    Das Insekt richtete sich verwirrt auf und schaute sich um. Warum war es erst jetzt geschlüpft? Alle anderen Zikaden waren schon vor Wochen auf und davon geflogen.
    »Wovon träumst du?«
    Ich fuhr erschreckt zusammen. Jason war durch den Glyzinentunnel gekommen und stand jetzt nur wenige Schritte mit einem Becher Kaffee in der Hand von mir entfernt. Er trug Jeans und ein T-Shirt; sein Gesicht wirkte frisch und gebräunt. Er starrte auf meine nackten Arme
    und Beine und sah dabei aus, als würden sie ihn an etwas erinnern.
    Ich schlang instinktiv die Arme um meine Knie und neigte mich ein wenig vor, so dass ich über das Buch gebeugt war, das ich gelesen hatte. »Eine Zikade«, sagte ich. »Siehst du sie?«
    Er ging in die Hocke und hielt sich schützend eine Hand
    über die Augen. Er musste an jenem Morgen beim Friseur gewesen sein, denn ich konnte die runde Form seines Kopfes erkennen und den anmutigen Schwung seines Nackens, wo er in die Schultern überging. Der Haarschnitt hatte ein kleines Muttermal knapp unter seinem Ohr freigelegt.
    »Ich dachte, die wären schon alle tot«, sagte ich, »weil es so kalt ist.«
    »Aber heute scheint die Sonne«, erwiderte er. »Und außerdem gehen in diesem Garten total abgefahrene Sachen ab. Frag Svetlana. Hier gelten die üblichen Naturgesetze nicht.«
    Er machte es sich auf dem Klappstuhl neben mir bequem,
    stellte den Kaffeebecher auf seinen Oberschenkel und schlug die Fußknöchel übereinander. »Die Baba yagas sind in den Yoyogi-Park gegangen, um sich die Rockabillytypen anzuschauen«, sagte er. »Wir sind ganz allein.«
    Ich antwortete nicht, kaute an meiner Lippe und starrte auf die Fenster der Galerie.
    »Nun?«, sagte er.
    »Nun was?«
    »Worüber hast du nachgedacht?« »Nichts. Ich dachte an ... an nichts.« Er hob seine Augenbrauen. »Nichts«, wiederholte ich.
    »Ja. Ich hab's gehört.« Er leerte seinen Kaffee und drehte den Becher um, so dass ein paar braune Tropfen auf die ausgetrocknete Erde fielen. Dann musterte er mich und meinte:
    »Sag mir mal was.«
    »Was?«
    »Sag mir - warum muss ich dich immerzu anstarren?«
    Ich senkte den Blick, zupfte am Bucheinband herum und tat so, als hätte er mich nichts gefragt.
    »Ich sagte, warum muss ich dich unentwegt anstarren?
    Warum schaue ich dich immer wieder an

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