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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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und denke, dass du etwas verbirgst, das ich sehr interessant finden würde.«
    Urplötzlich fröstelte mich, trotz der Sonne. Ich sah ihn verständnislos an. »Wie bitte?«, fragte ich kleinlaut. »Was hast du gesagt?«
    »Du verbirgst etwas.« Er wischte sich mit seinen Ärmeln die Stirn ab. »Es ist nicht schwer zu erraten. Ich brauche dich nur anzuschauen, und schon kann ich es sehen. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber ich habe den - den Instinkt, dass es etwas ist, das mir gefallen wird. Du musst nämlich wissen, ich bin ein ...«, er hob zwei Finger und tippte sich damit sacht an die Stirn, »... ich bin ein Hellseher, was Frauen angeht. Ich kann es in der Luft fühlen. Mein Gott, meine Haut.« Er schauderte und fuhr sich mit den Händen über die Arme. »Ich kriege eine richtige Gänsehaut.«
    »Du irrst dich.« Ich verschränkte meine Hände über dem Bauch. »Ich verberge nichts.« »Doch, tust du.« »Tu ich nicht.«
    Er musterte mich amüsiert. Dann seufzte er, stand auf und streckte sich genüsslich, wobei sein T-Shirt hochrutschte und mir einen Blick auf seinen flachen Bauch erlaubte. »Nein«, sagte er und schaute nachdenklich gen Himmel. »Nein.« Dann ließ er die Hände sinken und wandte sich zum Glyzinentunnel um. »Natürlich nicht.«
    26
    Ich habe einmal eine Geschichte über ein japanisches Mädchen gelesen, das in einem Garten gefangen war, als die Zikaden aus dem Boden kamen. Sie schlüpften alle gleichzeitig. Das Mädchen schaute zufällig hoch, und da waren sie, überall, bevölkerten die Luft und die Bäume, so viele, dass die Äste durchhingen. Überall um das Mädchen herum war der Boden von Löchern übersät, eine Million Insekten stiegen auf, und das Geräusch wurde immer unerträglicher, hallte von den Mauern wider, bis es fast ohrenbetäubend war. In Todesangst rannte sie davon, um Zuflucht zu suchen, zermalmte bei jedem Schritt Zikaden, zerbrach ihre schützenden Panzer, so dass sie kreischten und sich auf der Erde drehten wie zerbrochene Katharinenräder, flirrende Kreisel aus braunschwarzen Flügeln. Als das Mädchen schließlich einen Weg aus dem Garten fand, lief sie geradewegs einem Jungen in die Arme, der sie auffing und in Sicherheit brachte. Das Mädchen wusste es in jenem Moment noch nicht, doch die Zikaden hatten ihr Glück gebracht. Dies war der Junge, für den sie bestimmt war. Eines Tages würde sie seine Frau sein.
    Ich fuhr erschrocken zusammen - etwas hatte meinen Fuß
    getroffen - und schaute mich benommen um. Der Garten sah verändert aus, die Sonne hatte sich hinter den Wolken versteckt. Ich war ganz in meinem Tagtraum versunken gewesen. In meinem Traum war es Jason, der das Mädchen auffing und forttrug. Sein Hemd stand am Kragen offen, und während er sie trug, flüsterte er ihr etwas Schamloses und Verführerisches ins Ohr, so dass sie rot wurde und sich die Hände vors Gesicht schlug. Etwas traf meinen Arm, und ich taumelte entsetzt von meinem Gartenstuhl, so dass meine Bücher auf den Boden fielen. Überall tauchten kleine Dellen in der Erde auf, als wären Gewehrkugeln eingeschlagen. Regen. Es war nur Regen, doch ich befand mich noch immer in der Geschichte mit dem japanischen Mädchen. Die Tropfen fühlten sich auf meiner nackten Haut wie Säure an. Ich sammelte schnell meine Bücher ein und rannte auf den Glyzinentunnel zu, öffnete die Papiertür und trat in das kühr le Treppenhaus. In den Ritzen der Stufen hatten sich welke Blätter verfangen. Hinter mir prasselte der Regen an die Tür. Ich stellte mir vor, wie der Garten dunkler und dunkler wurde, während sich die Insekten in den Ästen zu einem großen Schwärm sammelten, der wie eine riesige Staubwolke wirbelnd über den Dächern aufstieg. Ich streifte meine Schuhe ab und hastete die Stufen hinauf.
    Jason stand am oberen Ende der Treppe im Korridor, ganz
    so, als hätte er auf mich gewartet. Er war zum Ausgehen angezogen, aber barfuß. Ich kam vor ihm zum Stehen und ließ
    meine Bücher fallen.
    »Was ist los?«
    »Ich hab mich geschnitten«, antwortete ich und fuhr mit meinen Händen über die Arme. Dabei stellte ich mir vor, wie Käferflügel meine Haut aufschlitzten. »Ich glaube, ich habe mich an der Glyzine geschnitten.«
    Er bückte sich und drückte meinen Knöchel mit Daumen und Zeigefinger. Ich zuckte zusammen und riss instinktiv mein Bein aus seinem Griff. »Was tust du ...?«
    Er legte die Finger an die Lippen. »Was tust du«, äffte er mich nach und zog seine Augenbrauen hoch. »Was

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