Tokio
sollen«, sagte Lius Frau verbittert und kehrte uns den Rücken. »Wir werden hier alle sterben.«
Wir folgten ihr mit den Blicken, als sie den Raum verließ. Bald darauf hörten wir gedämpftes Schluchzen aus einem der hinteren Zimmer des Hauses. Ich schaute verlegen zu Liu, doch seine Miene war ausdruckslos. Nur die pochende Ader an seinem Hals verriet seine Gefühle.
»Was meinen Sie?«, sagte er schließlich, ohne mich anzusehen. »Wir haben Essen für knapp zwei Tage, dann müssen wir hungern. Meinen Sie, wir sollten hinausgehen und nach Nahrung suchen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete ich leise. »Die Stadt ist gefallen. Es wird nicht lange dauern, bis es wieder sicher ist, unsere Häuser zu verlassen. Vielleicht zwei Tage, vielleicht weniger. Sie werden es uns bestimmt bald mitteilen.«
»Und wir sollten bis dahin warten?«
»Ja. Ich denke, das sollten wir. Es wird nicht lange dauern.«
Nanking, 17. Dezember 1937
Wir haben seit zwei Tagen nichts gegessen. Ich mache mir Sorgen, wie lange Shujin das noch durchhält. Es kann nicht mehr lange dauern, bis der Friede wiederhergestellt ist. Es gibt Radioberichte über Versuche, ein Selbstverwaltungskomitee für die Stadt einzurichten - sie sagen, es wird schon bald wieder möglich sein, unbehelligt unsere Häuser zu verlassen. Und das Rote Kreuz wird in der Shanghai-Straße kostenlose Reisrationen verteilen. Doch bis jetzt hat es noch keine Bekanntmachung gegeben. Wir fegten den Reis auf, der beim Diebstahl unserer Vorräte verschüttet worden war, und mischten ihn mit den Resten des eingelegten Gemüses, das Shujin glücklicherweise in der Küche aufbewahrt hatte; das reichte für zwei Mahlzeiten. Und weil Lius Frau sich um Shujin sorgte, steuerten sie das Wenige bei, das ihnen geblieben war. Doch jetzt ist alles aufgebraucht, und es geht ums nackte Überleben. Shujin klagt nicht, aber ich mache mir Sorgen um das Kind. Manchmal, tief in der Nacht, habe ich das seltsame Gefühl, dass sich etwas in Shujin, etwas Immaterielles, wie eine Essenz oder ein Geist, reckt, und ich ertappe mich dabei, wie ich mir vorstelle, dass unsere Mondseele vor Hunger seine Arme ausstreckt.
Ich warte mit dem Verrichten der anfallenden Arbeiten -dem Leeren des Nachttopfs und dem Hereinholen von Feuerholz -, bis es dunkel ist. Ich wache eifersüchtig über das wenige Öl, das ich für meine Lampe habe. Es ist bitterkalt, und selbst am Tag mummen wir uns in Steppdecken und Mäntel ein. Ich fange an zu vergessen, dass es in dieser Welt auch gute Dinge gibt - Bücher und Überzeugungen und Nebel über dem Jangtse. Heute Morgen habe ich sechs gekochte Fier gefunden, die in einen Qipao eingewickelt und in einer Truhe am Fußende des Bettes lagen. Sie waren rot gefärbt.
»Was ist das?«, fragte ich, nachdem ich sie Shujin gezeigt hatte.
Sie blickte nicht auf. »Leg sie wieder dahin zurück, wo du sie gefunden hast.« »Wofür sind die?« »Du kennst die Antwort darauf.« »Für das Man yue von Mondseele? Ist es das?« Sie schwieg.
Ich starrte auf die Eier in meinen Händen. Es ist erstaunlich, wie sehr nur zwei Tage ohne Nahrung einen Menschen verändern können. Mir wurde ganz schwindlig bei der Vorstellung, wie ich die Eier schälte und aß. Ich legte sie eilig vor Shujin auf den Tisch und trat einen Schritt zurück. »Iss«, sagte ich und zeigte auf die Eier. »Schnell. Iss sie jetzt sofort.«
Sie setzte sich, zog ihren Mantel enger um sich und blickte mit geistesabwesender, ausdrucksloser Miene auf die Eier.
»Ich sagte, iss. Jetzt sofort.«
»Das würde Mondseele Unglück bringen.«
»Unglück? Erzähl mir nichts von Unglück. Denkst du, ich
wüsste nicht, was Unglück ist?« Ich fing an zu zittern. »ISS!«
Doch sie saß nur stur und stumm da, mit verkniffenem Gesicht, während ich auf und ab tigerte und vor Frustration schier platzte. Wie konnte sie so dumm sein - die Gesundheit unseres Kindes aufs Spiel zu setzen? Schließlich kehrte ich, mit großer Selbstüberwindung, den Eiern den Rücken, schlug die Tür zu und ging in mein Arbeitszimmer, wo ich seither gesessen habe, außerstande, mich auf irgendetwas zu konzentrieren.
Nanking, 17. Dezember 1937,
Nachmittag
Während ich den letzten Eintrag niederschrieb, ist etwas passiert. Ich musste innehalten und meinen Federhalter beiseite legen, während ich staunend den Kopf hob. Ein Geruch wehte durch die geschlossenen Fensterläden herein. Ein Geruch, der zugleich erschreckend und wunderbar war. Der
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