Tokio
Erdbeben
gebrochen und hatten einige der Räume in unterirdische Seen verwandelt.
Ich wandte mich wieder dem Garten zu und dachte an Shi
Chongmings Worte: Seine Zukunft wartet darauf enthüllt zu werden. Ein sonderbares Gefühl überkam mich. Das Gefühl, dass die Zukunft dieses Gartens sich speziell um den Bereich zentrierte, in dem ich gerade stand: den Bereich um die Steinlaterne.
24
Nanking, 14. Dezember 1937, Mittag
Die Wahrheit erreicht uns über das Radio. Es steht nicht gut. Gestern, nach der Explosion des Zhongshan-Tors, hatte die kaiserliche japanische Armee anscheinend zwei Breschen in die Stadtmauer geschlagen. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich noch rechtzeitig entkommen bin. Im Verlauf des Nachmittags hatten sie mit ihren Panzern, Flammenwerfern und Haubitzen die Stadt erstürmt und bei Einbruch der Nacht alle Regierungsgebäude in Nanking besetzt.
Als wir das hörten, ließen Shujin und ich entmutigt die Köpfe hängen. Schließlich stand ich auf, schaltete das Radio aus und legte meine Hände auf ihre Schultern.
»Mach dir keine Sorgen. Es wird alles vorbei sein, bevor unser K...«, ich zögerte und schaute auf sie hinab, auf das volle dunkle Haar, die verletzliche weiße Haut am Scheitel. »Es ist vorbei, bevor kleiner Mond kommt. Wir haben genug Lebensmittel und Wasser für gut zwei Wochen. Und außerdem«, ich holte tief Luft und versuchte, zuversichtlich und beruhigend zu klingen, »sind die Japaner zivilisiert. Es wird nicht lange dauern, bis wir wieder unserem alltäglichen Leben nachgehen können.«
»Unsere Zukunft ist unsere Vergangenheit, und unsere Vergangenheit ist unsere Zukunft«, hauchte sie. »Wir wissen bereits, was geschehen wird ...«
Wir wissen bereits, was geschehen wird?
Vielleicht hat sie Recht. Vielleicht tragen wir alle Wahrheiten von Geburt an in uns. Vielleicht verbringen wir Jah re damit, von dem wegzukommen, was wir bereits wissen,
und vielleicht erlauben uns Alter und Tod zurückzukehren zu etwas, das rein ist, unberührt vom Akt des Überlebens. Was, wenn sie Recht hat? Was, wenn alles bereits da ist -unser Schicksal und unsere Lieben und unsere ungeborenen Kinder?
Was, wenn wir alles vom Tag unserer Geburt an in uns tragen?
Wenn das so ist, dann weiß ich bereits, was mit Nanking passieren wird. Ich muss nur in mir nach jener Anwort suchen...
Nanking, 15. Dezember 1937,
Mitternacht (der dreizehnte Tag des elften
Monats)
Ha! So schnell kann sich alles ändern. Nur ein kurzer Tag später, und all meine Zuversicht ist dahin. Das hat Shujin, meine Wahrsagerin, nicht vorausgesehen! Die Lebensmittel sind weg. Gegen ein Uhr nachts haben wir ein Geräusch im vorderen Hof gehört. Als ich zum Fenster schlich, um nachzuschauen, sah ich, wie zwei zerlumpte Jungen den Hirsesack und die Fleischvorräte über die Mauer zerrten. Sie hatten ein Seil über die Mauer geworfen und kletterten daran empor. Ich schrie und rannte die Treppe hinunter, griff nach der Eisenstange und brüllte die beiden wütend an, doch als ich schließlich die Tür entriegelt hatte und hinaus auf die Straße trat, waren sie bereits verschwunden.
»Was ist los?« Shujin erschien in ihrem langen Nachthemd an der Tür. Ihr Haar hing offen auf die Schultern, und sie hielt eine Öllampe in der Hand. »Chongming? Was ist passiert?«
»Sssch. Gib mir meine Jacke, dann geh wieder ins Haus und verschließ die Türen. Mach niemandem auf, bis ich zurückkomme.«
Ich schlich zwischen verlassenen Häusern und Brachland entlang , bis ich Lius Straße erreichte. Sein Haus war das einzig bewohnte in der Gasse, doch als ich um die Ecke bog, sah ich alle drei im fahlen Mondschein vor dem Haus stehen. Lius Frau weinte, und sein Sohn stand am Ende der Gasse und starrte die Hauptstraße entlang, breitbeinig und bebend vor Zorn. Er hielt eine hölzerne Karrendeichsel, als wollte er auf jemanden einschlagen. Noch bevor ich näher kam, wusste ich, dass die Familie das gleiche Schicksal ereilt hatte wie uns. Sie baten mich ins Haus. Liu und ich rauchten eine Pfeife und setzten uns vor den Kohleofen, um uns zu wärmen, während die Tür zur Gasse offen stand, weil sein Sohn darauf bestand, draußen Wache zu halten. Und so hockte er dort in der Gasse, in jener Kauerstellung, die die Jungen so natürlich finden. Die Deichsel lag griffbereit zu seinen Füßen. Seine Augen blitzten, loderten wie die eines Tigers, während er die Hauptstraße im Auge behielt.
»Wir hätten die Stadt schon längst verlassen
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