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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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mich immer wieder aufschrecken, infizierte meine Gedanken, brachte mich dazu, über die Frage nachzugrübeln, wie weit ich bereit war, seinem Wunsch nachzukommen. Und wenn es nicht die »Ausschmückungen« der Krankenschwester waren, dann war es Jason, der mich beschäftigte und dafür sorgte, dass meine Haut kribbelte und unangenehm am Bettzeug scheuerte. Manchmal - nämlich dann, wenn er dort auftauchte, wo ich ihn am wenigsten vermutete und mich schweigend beobachtete, im Korridor vor meinem Zimmer oder an der Bar, wenn ich aufstand, um ein sauberes Glas zu holen - sagte ich mir, dass er mich neckte, dass er aus Spaß
    einen kunstvollen Pas de deux aufführte, dass er in den schattigen Winkeln des Hauses um mich herumtanzte, ein Harlekin, der den Flur entlang in die Nacht entschwand. Doch manchmal, wenn wir alle zusammen vom Klub nach Hause
    gingen und er mich musterte, hatte ich das Gefühl, dass er versuchte, tiefer zu blicken - unter meine Kleider zu sehen. Dann regte sich augenblicklich das bekannte schreckliche Gefühl in meinem Bauch, und ich musste den Gürtel meines Mantels enger schnallen, den Kragen hochschlagen, die Arme verschränken und schneller gehen.
    Das Haus schien immer einsamer zu werden. Eines Morgens, ein paar Tage nach meinem Besuch bei Shi Chongming, wachte ich früh auf und lauschte hinein in die Stille, war mir der unzähligen Zimmer sehr bewusst, die sich in alle Richtungen erstreckten, der knackenden Dielenbretter
    und staubigen Winkel voller Geheimnisse und möglicherweise auch voller unvorhergesehener Tode. Verriegelte Zim-mer, die nie ein Lebender betreten hatte. Die anderen schliefen, und plötzlich konnte ich die Stille nicht mehr ertragen. Ich stand auf, machte mir ein Frühstück aus Nashi und starkem Kaffee, zog ein Leinenkleid an, nahm meine Notizblöcke und Kanji-Bücher und trug alles hinaus in den Garten. Es war ein ungewöhnlich warmer, windstiller Tag - beinahe sommerlich. Ich hatte nie gedacht, dass der japanische Himmel dermaßen klar sein könnte. Die Klappstühle standen noch so da, umgeben von aufgeweichten Zigarettenkippen, welche die Russinnen im Sommer zurückgelassen hatten. Ich legte meine Sachen auf einen der Stühle und schaute mich um. Neben dem alten Teich erkannte ich die Reste eines Wegs - hübsch verzierte Trittsteine, die sich durch das Gebüsch auf die verbarrikadierten Zimmer zuschlängelten. Ich ging ein paar Schritte auf ihnen entlang, meine Arme ausgestreckt, als würde ich balancieren, folgte ihnen um den Teich herum, an der Laterne und der Steinbank vorbei in den Bereich, der Shi Chongming so fasziniert hatte. Als ich den Rand des Gebüschs erreichte, hielt ich inne und sah auf den Boden.
    Der Weg führte zwischen den Bäumen weiter, doch mitten
    auf dem Trittstein, an dem ich stehen geblieben war, befand sich ein einzelner weißer Stein, faustgroß und in verfaulenden Bambus eingewickelt wie ein Geschenk. In einem japanischen Garten besitzt alles eine geheime Bedeutung - ein Stein, der auf einem Trittstein lag, war ein un-missverständliches Signal für Besucher: Geh nicht weiter. Das hier ist privat. Ich verharrte eine Weile am Fleck, starrte auf den Stein und fragte mich, was er wohl verbergen mochte. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, so dass mich unvermittelt fröstelte. Was geschieht, wenn man die Regeln eines Ortes bricht, an dem man nichts zu suchen hat? Ich holte tief Luft und machte einen Schritt über den Stein hinweg.
    Dann hielt ich inne, in der Erwartung, dass etwas passieren würde. Ein kleiner Vogel mit langen Flügeln hob vom Boden ab und landete in einem der Bäume über mir, doch ansonsten herrschte Stille. Der Vogel schien mich zu beobachten, und eine Weile hielt ich seinem Blick stand. Dann drehte ich mich um und marschierte weiter zu dem verbarrikadierten Flügel des Hauses, bis ich mich schließlich an der Mauer wiederfand, von wo aus ich all die vernagelten, von Gestrüpp überwucherten Fenster an der Längswand des Hauses sehen konnte. Ich stieg über einen heruntergefallenen Ast und stellte mich ganz dicht vor eins der Sicherheitsgitter, so dass das von der Sonne aufgeheizte Metall meine Haut wärmte. Ich roch den Staub und den Schimmel der verschlossenen Zimmer. Der Keller schien nicht ganz ungefährlich zu sein. Jason war vor Monaten einmal unten gewesen, hatte er uns erzählt. Es gab Berge von Sperrmüll und Dingen, die er lieber nicht allzu genau hatte in Augenschein nehmen wollen. Rohre waren während

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