Tokio
bemerkten sie sie gar nicht.
Sie sah nicht zu mir herüber. Vermutlich hatte sie mich draußen gar nicht bemerkt. Fuyuki sagte etwas zu ihr, und seine dürre Hand zupfte an ihrem Ärmel. Sie beugte sich zu ihm, und mir lief es kalt über den Rücken, als ich ihre rot lackierten Nägel sah. Der Nagel ihres kleinen Fingers war lang und gebogen, so wie chinesische Kaufleute sie traditionell wachsen ließen, um zu zeigen, dass sie keine körperliche Arbeit verrichten mussten. Ich fragte mich, ob Fuyuki ihr wohl berichtete, wie beharrlich ich darauf bestanden hatte, mir sein Apartment anzusehen. Doch gleich darauf verließ sie den Innenhof durch die gegenüberliegende Tür, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Ich neigte mich angespannt vor, die Hände um die Armlehnen meines Sessels geklammert, während meine ganze Aufmerksamkeit der Krankenschwester galt, ich sie im Geist auf ihrem Weg den Korridor entlang, vielleicht sogar die Treppe hinunter begleitete. Ich wusste, was sie vorhatte. Ich wusste es instinktiv. Der Partylärm verebbte zu einem bloßen Hintergrundgeräusch. Ich hörte jemanden in der Küche Geschirr spülen. Ich hörte die gedämpften Schritte der Krankenschwester auf der Treppe. Ich war überzeugt, dass ich Schlösser rasseln hörte und Türen, die sich quietschend öffneten. Sie war auf dem Weg, um Fuyukis Medizin zu holen. Und dann passierte etwas. Im Swimmingpool, in einer Tiefe von fast drei Metern, befanden sich zwei Unterwasserfenster mit Jalousien. Ich hatte sie zuvor nicht bemerkt, weil in dem Raum dahinter kein Licht brannte. Doch jetzt war Licht angegangen und warf vertikale gelbe Streifen in das Wasser. Ich zündete eine Zigarette an, stand auf und schlenderte lässig an der Gästeschar vorbei zum Rand des Swimmingpools. Dort blieb ich stehen, eine Hand auf die Hüfte gestützt, und sog den Rauch der Zigarette tief ein, um mich zu beruhigen. Dann, als ich sicher war, dass niemand mich beobachtete, spähte ich ins Wasser. Ganz in der Nähe stimmte ein Gast lauthals ein EncaLied an, und eine der Hostessen kicherte schrill, doch ich nahm es kaum wahr. Ich schottete mein Bewusstsein ab, bis es nur noch mich und diese Lichtstreifen im Wasser gab.
Ohne sagen zu können, wieso, war ich überzeugt, dass hinter der Jalousie jener Raum lag, in dem Fuyukis Medizin aufbewahrt wurde. Die Lamellen waren weit genug geöffnet, um ein Stück des Fußbodens zu erkennen und den Schatten der Krankenschwester, der sich darauf hin und her bewegte. Von Zeit zu Zeit kam sie nah genug ans Fenster, so dass ich ihre hochhackigen Pumps sehen konnte. Ich konzentrierte mich noch mehr. Da befand sich noch etwas anderes im Raum. Etwas aus Glas. Etwas Rechteckiges, wie ein Kasten oder ein ...
»Was machst du denn da?«
Ich fuhr erschrocken zusammen. Jason stand mit einem Drink in der Hand neben mir und schaute ins Wasser. Plötzlich setzten alle Geräusche wieder ein, und die Farben kehrten zurück. Der singende Gast schmetterte die letzten Takte seines Liedes, und die Kellner öffneten Brandyflaschen und verteilten Gläser an die Gäste.
»Was stierst du denn so an?«
»Nichts.« Ich warf noch einen letzten verstohlenen Blick in den Swimmingpool. Das Licht war erloschen, das Becken wieder dunkel. »Ich meine, ich hab das Wasser angeschaut. Es ist so - so klar.«
»Sei vorsichtig«, murmelte Jason. »Sei sehr vorsichtig.«
»Ja«, sagte ich und trat vom Becken zurück. »Selbstverständlich.«
»Du bist aus einem ganz bestimmten Grund hier, stimmt's?«
Ich sah ihm in die Augen. »Was?« »Du suchst nach etwas.«
»Nein. Ich meine - nein, natürlich tu ich ... wie kommst du denn auf so was?«
Er stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. »Du vergisst, dass ich weiß, wenn du lügst.« Er betrachtete mein Gesicht, dann mein Haar und meinen Hals, so als hätten sie ihm gerade eine schwierige Frage gestellt. Dann berührte er sacht meine Schulter, und die statische Aufladung ließ mein Haar zu ihm fliegen und sich um seine Finger wickeln. »Ich werde ganz in dich eindringen«, sagte er leise. »So tief, wie es geht. Aber hab keine Angst, ich werde es ganz, ganz langsam tun.«
29
Nanking, 18. Dezember 1937, acht Uhr
abends (der sechzehnte Tag des elften Monats)
Endlich kann ich schreiben. Endlich habe ich mich etwas beruhigt. Ich bin über einen Tag lang von zu Hause fort gewesen. Als ich mich am späten Nachmittag entschieden hatte, das Haus zu verlassen, konnte mich nichts aufhalten. Ich heftete mir
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