Tokio
fauliger Abwässer verdrängt worden. Mutlosigkeit überkam uns. Ich betrachtete die windschiefen Gebäude, die die Straße säumten. »Ich bin gar nicht mehr so hungrig, mein Freund, wirklich nicht.«
»Sie sind müde. Das ist alles.«
Ich wollte gerade antworten, als ich über Lius Schulter hinweg eine Bewegung wahrnahm. »Sagen Sie nichts«, zischte ich und packte ihn am Arm. »Seien Sie mucksmäuschenstill.«
Er wirbelte herum. In der Ferne, am Ende der Straße, ne
ben einer kleinen Laterne, die auf einer Wassertonne stand und sein Gesicht von unten beleuchtete, war ein japanischer Soldat mit einem Gewehr über der Schulter aufgetaucht. Keine fünf Minuten zuvor hatten wir genau an derselben Stelle gestanden.
Wir duckten uns eilig in den nächsten Hauseingang, drückten uns an die Wand und sahen einander an.
»Vor einer Minute war er noch nicht da«, zischte Liu. »Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein.«
»Wie, in Gottes Namen, sollen wir jetzt wieder nach Hause kommen?«
Wir standen lange da, keuchend, mit hämmerndem Herzen,
hoffend, dass der andere entscheiden würde, was zu tun sei. Ich wusste, dass sich diese Straße über eine weite Strecke schnurgerade dahinzog, ohne Abzweigungen. Wir würden weit laufen müssen, direkt vor den Augen des Soldaten, bevor wir an eine Querstraße oder Gasse gelangten, in die wir uns flüchten konnten. Ich holte tief Luft, zog meine Mütze in die Stirn und streckte meinen Kopf hinaus in die Straße, blitzschnell, gerade lang genug, um einen Blick auf den Soldaten zu werfen. Ich wich erschrocken zurück und drückte mich flach gegen die Wand.
»Was?«, zischte Liu. »Was haben Sie gesehen?«
»Er wartet auf irgendwas.«
»Er wartet? Wartet auf ...«
Doch bevor er die Frage beenden konnte, hörten wir die Antwort: Ein vertrautes Geräusch kam drohend aus der Ferne näher, ein schreckliches Dröhnen, das die Häuser um uns herum beben ließ. Wir erkannten das Geräusch auf Anhieb: Es waren Panzer.
Instinktiv drängten wir uns tiefer in den Hauseingang, warfen uns mit dem ganzen Gewicht gegen die Holztür, in der Hoffnung, dass der Lärm der Panzer unsere Bemühungen übertönen würde. Wir waren bereit, wenn nötig an der Seite des Hauses hinaufzuklettern, als endlich die Tür mit einem lauten Krachen zersplitterte und der Lärm der Panzer hinter uns lauter wurde. Ein Schwall muffiger Luft empfing uns, als wir ins Haus taumelten.
Es war stockdunkel, bis auf einen Schimmer fahlen Mondlichts, der durch ein Loch im Dach hereinfiel.
»Liu?« Meine Stimme klang erstickt und kläglich. »Wo sind Sie?«
»Hier, ich bin hier.«
Gemeinsam schoben wir das, was von der Tür übrig geblieben war, wieder vor den Eingang; dann tasteten wir uns vorsichtig durch das Zimmer, auf das Loch in der Decke zu. Es ist erstaunlich, welche Gewohnheiten die Leute vom Land mit in die Großstadt bringen. In diesem Haus hatte Vieh gelebt, vielleicht um den Bewohnern in der Nacht Wärme zu spenden. Das Dröhnen und Rasseln der Panzer wurde lauter, so dass das kleine Haus erzitterte und einzustürzen drohte.
»Hier entlang«, flüsterte Liu. Er war stehen geblieben, und jetzt sah ich, dass er die Sprossen einer Leiter umfasst hielt, die hinauf zu dem Loch im Dach führte. Über uns leuchtete der Nachthimmel mit seinen kalt funkelnden Sternen. »Auf geht's.«
Er kletterte die Leiter flinker empor, als ich es bei einem Mann seines Alters vermutet hätte. Oben angekommen, beugte er sich zu mir herab, um mir eine Hand entgegenzustrecken. Ich kletterte eilig hinauf, ergriff sie und ließ mich von ihm durch das Loch ziehen. Dann schaute ich mich um. Wir standen im Freien. Das Haus war eine Ruine, das Dach bestand nur noch aus verrottenden Flattergrashalmen und bröckelndem Kalkmörtel.
Ich gab Liu ein Zeichen, und wir krochen vor bis an die
Kante und spähten vorsichtig über die brüchige Mauer. Wir hatten es gerade noch rechtzeitig geschafft. Unter uns bewegte sich eine Kolonne von Panzern langsam die Straße entlang. Der Lärm war ohrenbetäubend. An den Geschütztürmen baumelten Lampen, die seltsame Schatten auf die
Häuser warfen. Soldaten mit Säbeln und Karabinern marschierten stocksteif und mit ausdrucksloser Miene neben den Panzern her. Es musste sich um eine Verlegung zu einem neuen Einsatzort handeln, denn hinter den Panzern folgten andere Fahrzeuge: Spähwagen, ein Wasserversorgungswagen, zwei Pontonbrücken, die von einem Laster gezogen wurden. Während wir die Prozession verfolgten,
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