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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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waren. Auch hier reihte sich eine beleuchtete Glasvitrine an die andere - ich konnte das Kostüm eines Noh-Schauspielers und Samurai-Rüs tungen funkeln sehen. Zahllose Türen reihten sich aneinander. Ich holte tief Luft und setzte mich in Bewegung.
    Der Teppich dämpfte meine Schritte; das Summen der Klimaanlage erinnerte mich an die beengte Atmosphäre in einem Flugzeug. Ich schnüffelte — was erwartete ich zu riechen? Iss nicht von dem Fleisch ... Es hätte eigentlich eine weitere Treppe auf dieser Seite des Apartments geben müssen, doch ich fand keine. Am Ende des Korridors bog ich in einem scharfen rechten Winkel in einen weiteren Flur ein - und da war sie, zu meiner Rechten: die Treppe, hinter einer schweren Tür, deren Flügel von Haken in der Wand offen gehalten wurden.
    Ich war noch knapp zehn Meter entfernt, als ein ganzes Stück weiter, an der nächsten Ecke, ein Schatten am Fuß der Wand auftauchte.
    Ich erstarrte. Die Krankenschwester. Es konnte nur sie sein, die vom nächsten Korridor auf mich zukam. Sie ging offensichtlich sehr rasch, denn der Schatten wurde immer größer, wuchs zusehends an der Wand, bis er nahezu an die Decke reichte. Ich stand wie gelähmt da, tastete dann blind nach der nächstgelegenen Tür. Sie ließ sich öffnen. Drinnen ging automatisch Licht an, und gerade, als der Schatten sich auf den Fußboden senkte und seitwärts an der Wand entlang auf mich zugesaust kam, trat ich ein und schloss mit einem leisen Klicken die Tür hinter mir.
    Es war ein Badezimmer, ein fensterloser Raum aus blutrotem Marmor, der von Adern durchzogen war wie ein gut abgehangenes Steak. Es gab einen von Spiegeln umgebenen Whirlpool und einen Stapel makellos gestärkter Handtücher auf einem Sims. Ich stand einen Moment lang zitternd wie Espenlaub da und lauschte, mein Ohr an die Tür gepresst, hinaus in den Korridor. Wenn sie mich gesehen hatte, würde ich das Gleiche wie zu Fuyuki sagen: dass ich nach der Toilette suchte. Ich hielt den Atem an, um besser lauschen zu können. Doch alles blieb ruhig. Vielleicht war sie in ein anderes Zimmer gegangen. Ich verriegelte die Tür und ließ mich dann mit weichen Knien auf den Klodeckel sinken. Die ganze Sache war verrückt, völlig verrückt. Was dachte Shi Chongming eigentlich, wie ich das hier bewältigen sollte? Wofür hielt er mich denn?
    Nachdem eine Weile nichts passiert und kein Laut zu hören gewesen war, holte ich eine Zigarette heraus und zündete sie an. Ich rauchte, kaute an den Nägeln und starrte auf die Tür, bis ich auf meine Uhr schaute und mich fragte, wie lange ich schon hier drinnen saß. Langsam, ganz langsam ließ das Zittern nach. Ich rauchte die Zigarette zu Ende und warf sie ins Klo, zündete mir sogleich die nächste an und rauchte auch diese zu Ende. Schließlich stand ich auf und fuhr mit den Fingern an den Kanten des Spiegels entlang, während ich mich fragte, ob es dahinter genügend Platz für eine Überwachungskamera gab. Ich öffnete Schubladen und durchwühlte Berge von Seifenstücken und kleinen Gratis-shampoos und -duschgels mit JAL-und Singapore-Airline-Logos. Nach einer schieren Ewigkeit entschloss ich mich, den Raum zu verlassen, atmete tief durch, entriegelte die Tür und streckte vorsichtig den Kopf hinaus. Der Korridor lag verlassen da. Die Krankenschwester war verschwunden und die doppelflügelige Tür zur Treppe geschlossen. Als ich hinüberschlich und die Klinke herunterdrückte, stellte ich fest, dass jemand die Tür abgesperrt hatte.
    Draußen war der Himmel bis auf einen Wolkenfetzen, der
    von den Lichtern der Stadt rosa angestrahlt wurde, klar. Während ich mich in dem Bad aufgehalten hatte, waren die Gäste von den Tischen aufgestanden und hockten nun auf gestreiften Sesseln um Klapptische herum, auf denen die ersten Mah-Jongg-Partien begannen. Die Kellner räumten das Geschirr ab. Niemand bemerkte, dass ich zurückkam und mich auf einem Sitz neben dem Swimmingpool niederließ.
    Fuyuki war in die gegenüberliegende Ecke der Terrasse geschoben worden, und die Krankenschwester hüllte gerade seine Beine in eine Pelzdecke. Sie trug einen sehr engen Rock, eine Jacke mit Stehkragen und wie immer Stöckelschuhe. Sie hatte ihr Haar hinter die Ohren gekämmt, so dass man ihre weißen, pockennarbigen Wangen sehen konnte. Ihre Lippen waren tiefrot geschminkt und wirkten fast bläulich. Die Männer, die in ihrer Nähe saßen, kehrten ihr betont den Rücken zu, konzentrierten sich auf ihre Unterhaltungen und taten so, als

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