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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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die Flüchtlingsbescheinigung an die Jacke und schlüpfte hinaus in die Gasse, angelockt von dem Geruch. Es war das erste Mal, dass ich mich seit dem dreizehnten am helllichten Tag draußen aufhielt. Die Luft war kalt, der Schnee schwer. Ich bewegte mich lautlos, benutzte schmale Gässchen und kletterte über Pforten, um zu Lius Haus zu gelangen. Die Vordertür stand offen, und er saß im Eingang, beinahe so, als hätte er sich nicht von der Stelle gerührt seit meinem letzten Besuch. Er rauchte Pfeife, und sein Blick war abwesend.
    »Liu Runde«, begann ich, als ich eintrat, »können Sie es riechen? Können Sie den Geruch von Gebratenem riechen?«
    Er beugte sich vor, reckte seine Nase in die Luft und sah gedankenverloren gen Himmel.
    »Es könnten die Lebensmittel sein, die sie uns gestohlen haben«, sagte ich. »Vielleicht haben sie die Frechheit, sie zu kochen.«
    »Vielleicht.«
    »Ich mache mich auf die Suche. Ich werde das Viertel durchstreifen. Shujin muss etwas essen.«
    »Sind Sie sicher? Was ist mit den Japanern?«
    Ich antwortete nicht, erinnerte mich etwas peinlich berührt an sein Beharren darauf, dass wir hier sicher sein würden; dachte an das Vorbild, das wir anderen hatten sein wollen. Wir verfielen in Schweigen, bis ich schließlich auf meine Flüchtlingsbescheinigung tippte. »Haben Sie denn keine - haben Sie denn keine von diesen, mein Freund?«
    Er zuckte mit den Achseln, legte seine Pfeife weg und stand auf. »Warten Sie hier«, sagte er. »Ich hole sie.«
    Er sprach im Flüsterton mit seiner Frau. Ich konnte von ihr nur einen blassblauen seidenen Ärmel sehen, der immer wieder in der offenen Tür auftauchte, wenn sie ihre Hand hob, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen. Kurz daraufkam Liu wieder zu mir heraus, schloss sorgfältig die Tür hinter sich und spähte in die Gasse. Er hatte sich seine Bescheinigung an die Jacke geheftet und wirkte angespannt und müde. »Ich hätte niemals gedacht, dass es so weit kommt«, flüsterte er und schlug seinen Kragen hoch, um sich gegen die Kälte zu schützen. »So hatte ich es mir nicht vorgestellt. Manchmal frage ich mich, wer in meiner Ehe der Närrische ist ...«
    Wir schlichen ans Ende der Gasse und spähten auf die verlassene Straße hinaus. Nichts rührte sich. Nicht einmal ein Hund war zu sehen, nur Reihen von verbarrikadierten, rußgeschwärzten Häusern und ein einsamer Handkarren, der umgekippt an der Fassade eines Hauses lehnte. Kleine Feuer brannten, und in Richtung des Flusses war der Himmel rot von Flammen. Ich streckte schnüffelnd meine Nase in die Luft. Jener unglaublich verlockende Geruch schien stärker zu werden. Beinahe so, als würden wir jeden Moment das Brutzeln und Zischen von bratendem Fleisch aus einem der Häuser hören können.
    Wir schlichen wie zwei ausgehungerte Katzen die Straße entlang, hielten uns in den Schatten, huschten von Hauseingang zu Hauseingang, arbeiteten uns langsam auf das ZhongyangTor im Norden vor, in die Richtung, in welche die Diebe gelaufen waren. Von Zeit zu Zeit stießen wir auf Bündel mit Habseligkeiten, deren Besitzer nirgends zu entdecken waren. Wir schleiften sie in den nächstgelegenen Hauseingang, wo wir sie hektisch auf Nahrung durchwühlten. Bei jedem windschiefen Haus, das wir passierten, drückten wir unsere Nasen an der Tür platt und flüsterten durch die Astlöcher: »Wer kocht da? Wer kocht da?« Der Hunger zerrte an meinen Eingeweiden, so unerbittlich, dass ich mich nur mit Mühe aufrecht halten konnte. Der Blick auf Lius Miene zeigte mir, dass es ihm nicht anders ging. »Kommt raus!«, zischten wir in die Häuser. »Zeigt's uns - zeigt uns, was ihr kocht.«
    Im Winter wird es im Osten Chinas früh dunkel, und schon bald war die Sonne untergegangen. Uns blieb nur der Schein des Feuers, um uns zu orientieren, während wir weiter durch die Straßen streiften. Wir hatten das Gefühl, viele Li marschiert zu sein, ohne jedoch die Stadtmauer erreicht zu haben. Das einzige andere Lebewesen, dem wir begegneten, war ein magerer, hungrig aussehender und mit furchtbaren Wunden übersäter Hund. Er folgte uns eine Weile, und trotz seines abscheulichen Zustands, versuchten wir halbherzig, ihn einzufangen. Er war groß genug, um unsere beiden Familien satt zu machen. Doch er war unruhig und bellte laut, als wir uns näherten, so dass wir die Jagd aufgaben.
    »Es ist spät«, erklärte ich schließlich irgendwo in der Nähe des Tors und blieb stehen. Der Geruch von Gebratenem war vom Gestank

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