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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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»Nichts.«

    31
    Nanking, 18. Dezember 1937
    Nach den Fahrzeugen, nach dem ohrenbetäubenden Lärm und den Lichtblitzen kamen die Soldaten. Sie rannten durch die Straßen wie die Teufel, ganz wie Liu es in Su-zhou gesehen hatte. Immer wenn die Straße eine Weile lang still dalag und in uns die Hoffnung keimte, dass wir uns hinauswagen könnten, hörten wir das Furcht einflößende Rasseln von Bajonetten, das Stampfen von Stiefeln - und drei oder vier weitere kaiserliche Soldaten tauchten auf, ihre Arisaka-Gewehre im Anschlag. Der Wachsoldat am Ende der Straße hatte eine Kiste gefunden und saß jetzt darauf, während er rauchte und seine Kameraden weiterwinkte. Liu und ich hockten uns schließlich erschöpft und frierend, den Rücken an die Mauer gelehnt, nebeneinander, um uns gegenseitig zu wärmen.
    Nachdem wir über zwei Stunden dort ausgeharrt hatten, beleuchtete der Mond, eine kreisrunde silberne Scheibe und so klar, dass wir die Berge und Krater auf seiner Oberfläche erkennen konnten, unvermittelt eine deformierte schwarze Absonderlichkeit am Horizont, deren sanfte Hänge das Firmament verdeckten. Eine Weile lang betrachteten wir schweigend diese seltsame Erscheinung.
    »Was ist das?«, flüsterte Liu.
    »Der Tigerberg?«
    Es heißt, dass man den Tigerkopf des Tigerbergs nur von
    einigen Vierteln Nankings aus richtig sehen kann. Von unserem Blickwinkel aus war er nicht als der Berg, den ich kannte, wiederzuerkennen. Er wies eine gänzlich andere Form auf und wirkte merkwürdig klein. »Das kann nur der Tigerberg sein.«
    »Ich hatte keine Ahnung, dass wir so nah sind.«
    »Ich weiß«, flüsterte ich. »Das bedeutet, dass wir näher an der Stadtmauer sind, als ich dachte.«
    Eine Wolke schob sich vor den Mond, und die Schatten auf unserem Dach schienen um uns herumzuhuschen und
    -zuflattern. Ich schloss die Augen und kauerte mich dichter an Liu. Unten auf der Straße konnten wir noch immer die japanischen Truppen hören. Plötzlich übermannte mich die Müdigkeit. Mir war klar, dass wir dort auf dem Dach würden schlafen müssen. Liu zog seine Jacke fester um sich und begann ganz leise zu reden. Er erzählte mir von dem Tag, an dem sein Sohn geboren wurde, in Shanghai, in einem Haus
    nahe der berühmten Uferpromenade; erzählte mir, dass sich die ganze Familie zum Man yue versammelt hatte, als der Junge einen Monat alt war, ihm Umschläge mit Münzen gebracht und mit ihm gespielt hatte, bis er strampelte und lachte, so dass die kleinen goldenen Glöckchen an seinen Hand-und Fußgelenken klingelten. Liu konnte kaum fassen, dass er jetzt in einer einstöckigen Hütte in einer schmalen Gasse wohnte und vor Hunger Jagd auf räudige Hunde machte.
    Während er sprach, stopfte ich meine Ärmel in die Handschuhe und zog meine Jacke so zurecht, dass sie mir den größtmöglichen Schutz vor der Kälte bot. Lius Worte trieben über mich hinweg, umspülten mich wie ein Fluss und trugen meine Gedanken mit sich fort, am Tigerberg vorbei und den Jangtse hinauf, weg von Nanking: über die Salzwassermarschen, die sich viele Meilen ostwärts bis nach Shanghai erstreckten, vorbei an Schreinen, die mit Weihrauchasche

    bedeckt waren, vorbei an schmalen Gräbern, die aus dem kargen Boden neben den Bahngleisen ausgehoben wurden, vorbei am Geschnatter von Enten, die zum Markt gebracht wurden, und vorbei an aus dem gelben Stein herausgeschlagenen Behausungen - unerträglich heiß im Sommer, gut isoliert and geschützt im Winter. Ich dachte an all die Familien in China, die geduldig unter Teakholzbäumen in Dörfern warteten, an all die Gehöfte, deren Bewohner ehrlich waren und nichts verschwendeten, die Stroh und Gras als Brennstoff benutzten und die Ballons für ihre Kinder aus Schweinsblasen fertigten. Ich versuchte mit aller Macht, mir nicht vorzustellen, wie japanische Panzer über all das hinwegrollten, wie sie das ländliche Leben unter ihren Panzerketten zermalmten und ihre Flaggen mit der aufgehenden Sonne über allem flatterten, während ein ganzer Kontinent vor Angst zitterte.
    Schließlich wurden meine Lider schwer, und ich versank in einen unruhigen Schlaf.
    Nanking, 19. Dezember 1937 (der
    siebzehnte Tag des elften Monats)
    »Wachen Sie auf!«
    Ich schlug die Augen auf, und das Erste, was ich sah, war Liu Rundes Gesicht, nass und gerötet, die Wimpern mit Schnee bedeckt. »Wachen Sie auf, und schauen Sie.«
    Es war früher Morgen, und er deutete mit einem beklommenen Gesichtsausdruck über das Dach. Ich fuhr hoch, denn

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