Tokio
ich, dass ich ungeachtet dessen, wie die Dinge zwischen mir und Shi Chongming standen, glücklich war. Etwas hatte sich verändert - es schien, als wäre die kräftezehrende, verzweifelte Bedürftigkeit, die ich mit nach Tokio gebracht hatte, aus mir herausgeflossen und auf ihn übergegangen.
An dem Montag nach Fuyukis Party versuchte ich»
Strawberry mehr über die Geschichten zu entlocken, die siö
gehört hatte. Ich setzte mich ihr gegenüber an den Schreibtisch und sagte: »Ich habe auf der Party ein Stück Fleisch gegessen. Es hat irgendwie merkwürdig geschmeckt.« Als sie nicht reagierte, beugte ich mich vor und fuhr leise fort:; »Und dann ist es mir wieder eingefallen - Sie hatten mir! gesagt, ich solle dort nichts essen.«
Sie starrte mich mit einem durchdringenden Blick an, als wollte sie etwas sagen, doch stattdessen sprang sie auf und deutete mit einem Nicken auf ihr Spiegelbild in der Panoramascheibe. »Schau«, meinte sie im Plauderton, so als wäre nichts gewesen. »Schau. Dieses Kleid hübsches Kleid aus Film Bus Stop.« Es war ein mottenzerfressenes grünes Mantelkleid mit einem dazugehörigen schwarzen Netz und einem Pelzkragen, das sie weit aufgeknöpft trug, um ihren künstlichen Busen zur Schau zu stellen. Sie strich es über ihren Hüften glatt. »Kleid steht Strawberry Figur, ne? Steht Strawberry besser als Marilyn.«
»Ich sagte, ich glaube, ich habe etwas Schlechtes gegessen.«
Sie wandte sich zu mir um. Ihr Kopf wackelte vom vielen
Champagner, während sie mich mit ernster Miene betrachtete. Ich sah, wie sich ihre Kiefermuskeln bewegten. Sie stützte ihre Hände auf den Schreibtisch und beugte sich vor, bis ihr Gesicht ganz dicht an meinem war. »Du musst es vergessen«, flüsterte sie. »Japanische Mafia sehr kompliziert. Du kannst nicht leicht verstehen.«
»Sein Geschmack lässt sich mit nichts vergleichen, was ich schon mal gegessen habe. Und ich war nicht die Einzige, der es aufgefallen ist. Mr. Bai, er fand auch, dass etwas mit dem Essen nicht stimmte.«
»Mr. Bai?« Sie schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Du hören auf Mr. Bai? Mr. Bai Fuyukis Schoßhund. Wie Hund mit Halsband. Er früher berühmter Sänger, aber jetzt nicht so berühmt. Alles gut, bis ...«, sie hob warnend die Hand. »... bis er macht Fehler!« Sie fuhr sich mit der Handkante über die Kehle. »Niemand zu wichtig zu machen Fehler. Verstehen?«
Ich schluckte und sagte mit Nachdruck: »Warum haben Sie
mich davor gewarnt, etwas zu essen?«
»Alles Gerüchte. Alles Tratsch.« Sie griff nach der Champagnerflasche, schenkte sich ein, leerte das Glas in einem Zug und zeigte damit auf mich. »Und, Grey-san, du sagen nicht weiter, was ich dir erzählt habe. Verstehen?« Ich konnte sehen, wie ernst sie es meinte. »Du willst frohes Le
ben? Du willst frohes Leben, arbeiten in einem Erste-KlasseKlub? In Some Like It Hot?«
»Was soll das heißen?«
»Es heißen: Halt deinen Mund. Okay?«
Was natürlich bedeutete, dass ich, als Shi Chongming ungewöhnlich früh am nächsten Tag anrief, ihm nichts Neues zu berichten hatte. Er nahm es nicht gut auf. »Ich finde diese Einstellung höchst merkwürdig, ja, höchst merkwürdig. Ich hatte den Eindruck, dass Sie ganz >versessen< wären, meinen Film zu sehen.« - »Das bin ich.«
»Dann erklären Sie mir, einem alten Mann, der dem Wankelmut der Jugend verständnislos gegenübersteht, bitte, erweisen Sie mir die Ehre und erklären Sie mir diese plötzliche Weigerung zu reden.«
»Es ist keine Weigerung, ich weiß bloß nicht, was Sie von mir hören wollen. Ich kann mir nicht einfach Dinge ausdenken.«
»Ja.« Seine Stimme bebte vor Zorn. »Es ist so, wie ich vermutet habe - ein Sinneswandel. Habe ich Recht?« »Nein, Sie ...«
»Ich finde das gänzlich unannehmbar. Erst verlangen Sie von mir etwas, das mich große persönliche Überwindung kostet ...«, ich konnte spüren, dass er sich beherrschen musste, um nicht zu schreien, »... und jetzt diese Gleichgültigkeit!
Solche Gleichgültigkeit, wenn Sie mir sagen, dass Sie nicht mehr interessiert sind.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ...«
»Ich denke, das haben Sie.« Er hustete und gab einen seltsamen Laut von sich. »Ja, ja, ich denke, dass ich mich, soweit es Sie angeht, auf meine Instinkte verlassen kann. Ich werde Lebewohl sagen.« Dann legte er auf.
Ich saß in dem kalten Wohnzimmer und starrte auf den Hörer in meiner Hand, das Gesicht feuerrot. Nein, dachte ich. Nein. Shi Chongming, Sie irren sich. Ich
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