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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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sah vor meinem geistigen Auge den Schatten der Krankenschwester an der Korridorwand größer werden. Erinnerte mich daran, wie ich mit pochendem Herzen hinter der Badezimmertür gestanden hatte und an das Tatortfoto denken musste. Ich legte die Finger auf meine geschlossenen Augen und drückte sacht. Ich hatte so viel erreicht, war so weit gekommen, doch das Bild hatte mit einem Mal etwas Verschwommenes, so als ob man durch ein
    beschlagenes Fenster schaute. Ich ließ meine Hände sinken und lenkte meinen Blick auf den langen, staubigen, nur von wenigen Sonnenstrahlen erhellten Korridor. Jason schlief noch in meinem Zimmer. Wir waren bis fünf Uhr früh wach gewesen, hatten Bier getrunken, das er aus dem Straßenautomaten geholt hatte. Etwas Sonderbares ging mir durch den Sinn: Was wäre, wenn es mehr als einen Weg gäbe, Seelenfrieden zu finden? Wäre das nicht wunderbar?
    35
    Am Ende spielte es keine Rolle, was Shi Chongming sagte, denn Fuyuki erschien in den nächsten Tagen nicht wieder im Klub. Dann wurden aus Tagen Wochen, und plötzlich erkannte ich, dass ich aufgehört hatte, jedes Mal aufzuschrecken, wenn die Aufzugtür klingelte. Etwas entglitt mir, und lange Zeit tat ich nichts, ließ es geschehen, während ich mir eine Zigarette ansteckte und an Jason dachte, an seine muskulösen Arme etwa, und daran, wie sie sich anspannten, wenn er sich über mir aufstützte.
    Ich konnte mich nicht auf meine Arbeit im Klub konzentrieren. Manchmal hörte ich meinen Namen und erwachte aus meiner Trance, nur um festzustellen, dass ein Kunde mich seltsam musterte oder Mama Strawberry mich verärgert anschaute, weil ich mich nicht an der Unterhaltung beteiligt hatte. Hin und wieder beobachtete Jason mich. Wenn ich ihn dabei ertappte, wie er mich anstarrte, fuhr er mit der Zunge über die Zähne. Es amüsierte ihn, wenn ich dann eine Gänsehaut bekam. Die Russinnen wiesen mich immer wieder
    warnend auf seine merkwürdigen Bilder hin, legten einen Finger an die Lippen und flüsterten: »Eine Frau, die ein Laster in zwei Hälften zerrissen hat - stell dir das nur mal vor!« Doch ich hörte schon längst nicht mehr auf sie. Nachts, wenn ich aufwachte und die Atemzüge eines anderen Menschen neben
    mir hörte, das Geräusch, wenn Jason im Schlaf murmelte oder sich umdrehte, zog sich mein Herz wohlig zusammen. Ich fragte mich, ob ich vielleicht verliebt sei, aber der Gedanke rief Panik in mir hervor und ließ mir den Atem stocken. War das möglich? Konnten sich
    Menschen wie ich verlieben? Manchmal lag ich stundenlang wach und zerbrach mir den Kopf darüber.
    So wie die Dinge liefen, könnte man denken, dass sich einfach nie die Gelegenheit bot, ihm die Narben zu zeigen. Ich fand immer neue Ausreden. Ich besaß inzwischen zehn Unterhemden, alle gestapelt im Kleiderschrank, die ich ständig trug, selbst wenn ich schlief, mit dem Rücken zu ihm, zusammengekauert wie ein Fötus. Ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Was wären die richtigen Worte? Jason, vor langer Zeit dachten einige Leute, ich wäre verrückt. Ich habe einen Fehler gemacht ... Was, wenn er entsetzt wäre? Er behauptete zwar, dass er es nicht sein würde, doch wie soll ich ihm erklären, dass Verständnis oder auch nur die Illusion davon das wunderbarste Gefühl wäre, das ich mir vorstellen kann - beinahe so wunderbar wie die Gewissheit, dass ich mir das orangefarbene Buch nicht eingebildet hatte und dass, wenn man das Wagnis eingehen und es jemandem erzählen würde
    und es schief gehen sollte ... nun, das wäre wie - wie sterben. So als würde man wieder und wieder in ein dunkles Loch fallen.
    Ich fing an, von meiner Haut zu träumen. Sie löste sich von mir ab, schälte sich von meinem Körper, trennte ihre Nähte entlang meiner Wirbelsäule und unter meinen Armen auf. Dann schwebte sie in einem Stück nach oben, wie ein von einem Windhauch getragener Geist, bereit, jeden Moment davonzufliegen. Doch dann folgte immer der Ruck. Etwas zuckte, und ich schaute nach unten und sah, dass der wunderschöne schimmernde Fallschirm fest verankert und blutig war, in knorpeligen Narben angeheftet an meinen Bauch. Dann begann ich zu weinen und rieb hektisch an der Haut, um sie zu lösen. Ich zerrte und kratzte an mir, bis ich blutete und zitterte und ...
    »Grey?«
    Eines Nachts schreckte ich schweißnass aus meinem Albtraum auf. Es war dunkel, abgesehen von Mickey Rourkes Lichtschein. Ich lag auf meiner Seite des Betts, an Jason ge klammert. Mein Herz raste. Meine Beine

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