Tolle Maenner
Der Raum war schwach erleuchtet, und auf jedem Tisch brannten Kerzen in winzigen Glaslaternen. Er hatte sie gerade an seine obligatorische Drama/Geheimnis/Das-habe-ich-bisher-nur-direrzählt-Geschichte herangeführt. »Und was ist dann passiert?«, fragte Ruth atemlos.
»Wir waren Zwillingsbrüder«, sagte er. »Aber mein Bruder hat sich umgebracht. Ich war besser in der Schule, besser im Sport, kam besser bei den Mädchen an. Ich selber habe ihn zwar nie als Rivalen gesehen, aber ich fürchte, er hat sich immer irgendwie... minderwertig gefühlt. Seit seinem Tod werde ich deswegen von Schuldgefühlen verfolgt.« Er schwieg ein paar Sekunden, überrascht, dass er tatsächlich eine Spur des Schmerzes spürte, den sein imaginärer Zwillingsbruder bei ihm ausgelöst hatte. Er zuckte die Achseln. »Nun ja, und seither habe ich vor nichts mehr Angst.«
»Wirklich?«, sagte Ruth, und er sah, wie sich Mitgefühl über ihr Gesicht ausbreitete.
Als ihre stämmige Kellnerin an den Tisch kam, um die Teller abzuräumen, gebot Jon ihr Einhalt, indem er ihr die Hand auf den Ellbogen legte. »Hat sie nicht wunderschöne Augen?«, fragte er Ruth.
Jon lehnte sich auf seiner Bank zurück. Er wartete im Java, The Hut an einem Ecktisch auf Tracie, aber er war nicht allein. Bei
ihm saß Doris, die asiatisch-amerikanische Kellnerin, die er kennen gelernt hatte, als er mit Samantha essen gewesen war. »Und was ist dann passiert?«, fragte ihn das Mädchen, als hinge ihre ganze Existenz von seinen nächsten Worten ab.
»Wir haben auf dem Schießplatz herumgeballert«, erklärte er. »Ich bin ein erstklassiger Schütze, und er hat mich dazu herausgefordert, ihm eine Zigarette aus dem Mund zu schießen. Und obwohl ich erst vierzehn war und er mein Vater, hab ich nein gesagt. Da ist er sehr wütend geworden, aber ich hab trotzdem nein gesagt.« Er holte einen Pez-Spender mit Caspar, dem kleinen Geist, hervor und hielt ihn ihr hin, als handelte es sich um einen Orden der Ehrenlegion. Danach fuhr er fort: »Dann hat er vor all seinen Kumpeln mit meinen Schießkünsten angegeben und mit ihnen gewettet, dass ich das könnte. Da kam ziemlich viel Geld zusammen. Und nachdem er so das Maul aufgerissen hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als es zu versuchen... und danach hatte er wirklich ein großes Maul. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es war natürlich ein Unfall.« Er seufzte tief. »Aber trotzdem habe ich deswegen immer ein schlechtes Gewissen gehabt. Seither habe ich vor nichts mehr Angst.« Er rang sich einen weiteren tiefen Seufzer ab, bevor er den Kopf zum Fenster wandte, als stünde sein Vater draußen auf dem dunklen Parkplatz.
Molly kam an den Tisch und brachte ihnen ihr Essen. Nachdem sie jedem seinen Teller gegeben hatte, nahm Jon ihre Hand und schaute Molly in die Augen: »Hat sie nicht wunderschöne Augen?«, fragte er seine Begleiterin.
28. Kapitel
Tracie saß mürrisch und gereizt an ihrem Schreibtisch. Eigentlich hätte sie arbeiten sollen, doch seit der Redaktionssitzung am Vormittag war ihr jegliche Motivation abhanden gekommen. Statt mit einem neuen Entwurf zu beginnen, nahm sie das Telefon und wählte Jons Nummer. Seit Tagen hatte sie schon nichts mehr von ihm gehört. Sie war nicht nur neugierig, wie es bei ihm so lief, sondern brauchte auch jemanden, bei dem sie sich abreagieren konnte.
Bei niemandem konnte man sich so gut beschweren wie bei Jon. Laura machte in solchen Fällen nur Scherzchen und versuchte, sie aufzumuntern. Phil versuchte, sie abzulenken. Jon aber hatte wahres Einfühlungsvermögen.
Tracie war schon immer von Pearl Harbour und dem Zweiten Weltkrieg fasziniert gewesen. Der Vater ihrer Mutter war im Pazifik gefallen, und auch ihr Großvater väterlicherseits hatte dort gedient. Eine der wenigen Dinge, die sie in Encino immer genossen hatte, waren seine Besuche gewesen, und jedes Mal hatte sie ihn gebeten, ihr Geschichten vom Krieg zu erzählen. Deshalb war es auch ein ziemlicher Schock für sie, als Marcus bei der Sitzung am Vormittag einen Fortsetzungsartikel über die örtlichen Weltkriegsveteranen an Allison vergeben hatte.
»Marcus, ich wäre bestens auf diese Story vorbereitet. Ich habe noch Material, das ich in meinem Artikel über den Memorial Day nicht unterbringen konnte«, hatte Tracie ihm erklärt.
»Ich danke Ihnen für Ihr überaus großzügiges und hilfreiches Angebot«, hatte Marcus erklärt, »aber ich bin mir ganz sicher, dass Allison der Aufgabe gewachsen ist.«
Es war
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