Tolle Maenner
existierende Person zur Grundlage hatte.
Der Nonsens-Charakter seines Büros gefiel Jon sehr, denn seine Verrücktheit hatte durchaus Methode: Die Leute wurden dabei ganz locker, und das förderte ihren Spieltrieb – und damit auch ihre Kreativität. Auf seinem Schreibtisch aber ging es ernst zu. Nur drei Fotos standen in der Ecke der polierten Platte aus Plantagenteakholz: Eines zeigte seine Mutter, eines Tracie und ihn beim Collegeabschluss, und auf einem stand ein wesentlich
jüngerer Jon neben seiner Mutter und seinem Vater, kurz nachdem sie den Blauregen am Eingang ihres Hauses gepflanzt hatten und kurz bevor Chuck sich von ihr getrennt hatte.
Jetzt zog er das Polaroidfoto heraus, das seine Mutter heute gemacht hatte, und steckte es in die Ecke dieses Rahmens. Er starrte das Bild an: Jon Delano, achtundzwanzig Jahre alt, wie er seine Mutter umarmt, und für einen Augenblick veränderte es sich vor seinen Augen. Es wurde schwarzweiß, und plötzlich war da kein ausgewachsener, blühender Blauregen mehr und auch kein erwachsener Jon. Stattdessen umarmten sich ein sehr junger Jon und seine junge Mutter, während Mr. Delano vorbeiging und sich mit zwei Koffern abmühte. Jon blinzelte, und das tatsächliche Foto erschien wieder. Verwirrt stand er auf und entfernte sich vom Schreibtisch.
Er war hundemüde und bis oben hin voll gestopft. Gott sei Dank hatte Toni, seine vorletzte Stiefmutter, in letzter Minute abgesagt, sonst wäre er vermutlich geplatzt. Er schaute durch das Fenster auf den beleuchteten Garten und die Dunkelheit dahinter. Es war schon fast zehn Uhr abends, aber das hielt die Leute von Micro/Con auch sonntags nicht von der Arbeit ab. Sämtliche Angestellte waren stolz auf die unglaubliche Zahl von Arbeitsstunden, die sie in ihren Beruf investierten. Der Sonntag war fast ein ganz normaler Arbeitstag, und selbst um diese Zeit war der Parkplatz beinahe halb voll. Jon tätschelte seinen Bauch, ließ sich in einen Sitzsack sinken und rückte den Hintern zurecht, bis er die optimale Position gefunden hatte. Der Muttertag hatte für ihn immer etwas Deprimierendes an sich, und das lag nicht nur an der Ansammlung menschlichen Unglücks, die sein Vater hinterlassen hatte.
Jon war damit groß geworden, sich die Klagen von Frauen anzuhören. Es waren keineswegs nur die verschiedenen Ehefrauen seines Vaters, sondern auch die Damen, die sich im Haus seiner Mutter zum Kaffee trafen. Andere Frauen hatten noch schlimmere Geschichten über ihre Exgatten auf Lager, und er hatte sie sich, hinter der Couch versteckt, schon mit sieben, mit neun, mit
vierzehn angehört. Die Freundinnen seiner Mutter schienen allesamt unfähig, ihre Männer loszuwerden oder welche zu finden, die sie halbwegs anständig behandelten. Noch heute war ihm nicht klar, warum sie trotzdem bei ihnen geblieben waren. Er dachte an Barbara und ihre Backkunst. Nach den süßen Brötchen war wieder die unvermeidliche Frage gekommen: »Hast du mal von deinem Vater gehört?« Er dachte an Janets knochige Schultern, als sie ihm den Rücken zugekehrt und so getan hatte, als arrangierte sie die Blumen; auch sie hatte diese Frage gestellt.
Das war nicht Muttertag, jedenfalls nicht für Jon. Für ihn war es der »Hast-du-mal-von-deinem-Vater-gehört-Tag« oder der »Hast-du-eine-Freundin-Tag«. Er schüttelte den Kopf, schloss die Augen und setzte mit der rechten Hand die Brille ab, um die Druckstellen unter dem Nasensteg zu massieren. Jon hatte noch fast zwei Stunden Zeit bis zu seiner mitternächtlichen Verabredung mit Tracie. Und wenn er – obwohl die Arbeit stapelweise auf ihn wartete – vielleicht einfach mal kurz die Augen schloss und eine Minute, maximal zehn Minuten, ein kleines Nickerchen machte...
Jon war elf Jahre alt und saß seinem Vater auf einer Kunstlederbank gegenüber. Vor ihm stand ein unberührter Teller mit Spiegeleiern, das Eiweiß flüssig, das Eigelb klumpig, während sein Vater mit der Seite seiner Gabel Stücke vom dickflüssigen Eiweiß abriss, bevor er das eklige Zeug auf eine Ecke halb verkohlten Toastbrots und das Ganze schließlich in seinen Mund schob. Jon war sich der Tatsache bewusst, dass er schlief, aber der Mann vor ihm war so real, so perfekt rekonstruiert in seinem Traum, dass er unmöglich glauben konnte, er sei gar nicht da. Jon hätte jeden Stoppel auf dem Fünf-Uhr-Bartschatten seines Vaters zählen können. Chuck aß seinen letzten Bissen Ei, wischte den Teller mit einem Stück von Jons Toast sauber und steckte
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