Tolle Maenner
Französischkurs kennen gelernt hatten, hatten sie über unzähligen Cappuccinos im Java zusammengesessen, geschimpft, studiert, gelacht, gestritten und sogar geweint (er einmal ganz kurz, sie ausgiebig ein gutes Dutzend Mal). Da saß Jon auch jetzt, und endlich dachte er einmal nicht mehr an die Arbeit und an die Mütter. Er wartete auf Tracie.
Er hatte die Seattle Times vor sich ausgebreitet und schüttelte den Kopf, als er las, wie Marcus Tracies Artikel massakriert hatte. »Du siehst aus wie mein Labrador, wenn er Wasser in den Ohren hat«, sagte Molly. Molly war eine große, schlanke Blondine Anfang dreißig. Sie war im Londoner East End aufgewachsen und hatte schon in dem Café gearbeitet, als Jon und Tracie zum ersten Mal dort hingegangen waren. Meistens war sie es, die Jon und Tracie bediente. Wie es hieß, war sie eines jener »erfolgreichen« Groupies, denen es tatsächlich gelungen war, gleich mit zwei bedeutenden Rockstars auf Tournee und ins Bett zu gehen. Molly sprach nie darüber, aber Jon hatte gehört, dass sie mit jemandem von INXS zusammen gewesen war. Tracie behauptete, danach habe Molly einen von Limp Bizkit aufgerissen. Wer auch immer es gewesen war – anscheinend war Molly sitzen gelassen worden oder sonst irgendwie in Seattle gelandet und dann da geblieben.
Wilden Gerüchten zufolge hatte man Molly im Experience Music Project einen Raum oder gar einen ganzen Flügel gewidmet, und ihr erstes Diaphragma gehörte angeblich zu den achtzigtausend Ausstellungsstücken des Rockmuseums. Jon hatte das alles nie geglaubt, und bei der Eröffnung des Museums im vergangenen Juni hatte sich herausgestellt, dass an den Geschichten nichts dran war, aber selbst wenn sie wahr gewesen wären, hätte das an Jons Einstellung zu Molly nicht das Geringste geändert. Sie war vielleicht ein wenig schroff, aber geistreich und warmherzig – jedenfalls ihm gegenüber. Sie waren nicht unbedingt Freunde, aber gute alte Bekannte, und jedes Mal, wenn er an dem glitzernden Museum mit seinen einundzwanzigtausend Metallplatten vorbeifuhr, erinnerte es ihn an Molly. »Heute allein da, Süßer?«, fragte sie jetzt, obwohl sie die Antwort schon kannte. Jonathan schüttelte noch immer den Kopf, als sie mit einer Kopfbewegung auf den leeren Sitz deutete. »Das Übliche? Adam und Eva auf einem Floß? Oder willst du auf Miss Tut-mir-Leid-dass-ich-zu-spätkomme warten?«, fragte Molly sarkastisch.
»Ich warte«, erwiderte Jonathan.
»Treu, wie mein Labrador.« Molly verließ den Tisch, um gleich darauf mit seinem Lieblingsgetränk zurückzukommen. »Einen Cappuccino Light, während sie dich hängen lässt.«
Jon blickte zu ihr auf. »Du magst Tracie nicht besonders, stimmt’s?«
»Dein Scharfblick ist ja phänomenal. Wahrscheinlich bezahlen sie dich bei Micro/Con deswegen so gut.«
»Aber wieso denn?«, fragte Jon unschuldig. »Sie ist doch so nett.«
»Sie ist so dumm, dümmer geht’s kaum«, sagte Molly sachlich, während sie seinen Kaffee vor ihn hinstellte und das Platzdeckchen und Besteck ihm gegenüber geraderückte.
»Das ist nicht wahr!«, verteidigte Jonathan seine Freundin. »Im College hatte sie in allen Fächern super Noten – außer vielleicht in Mathematik. Und die Abschlussprüfungen hat sie auch mit Auszeichnung bestanden.«
»Aha. Summa cum lausig, was?«, kommentierte Molly, als sie sich umdrehte und sah, wie Tracie durch das Fenster mit dem Muttertagsspecial hereinschaute. »Dann also viel Spaß.«
Tracie kam mit glühenden Backen herein und stürzte sofort zu Jonathan. Natürlich sahen ihr alle Männer nach, aber sie schien das gar nicht zu bemerken. Jon fragte sich manchmal, ob ihr überhaupt klar war, welche Wirkung sie auf Männer hatte. Rasch knüllte er die Zeitung zusammen, versuchte, sie zu verstecken, und zog die neueste Ausgabe des Little Nickel heraus. Er lächelte, als sie sich ihm gegenüber auf die Bank setzte.
»Tut mir Leid, dass ich zu spät komme«, entschuldigte sich Tracie. »Nett von dir, aber ich habe das abgeschlachtete Feature schon gesehen. Marcus zerschnippelt immer meine besten Sachen. Könnte es sein, dass mein Chefredakteur der böse Bruder von Edward mit den Scherenhänden ist?« Tracie streifte ihren Mantel ab und nahm die Speisekarte. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich aufregte, er das Thema jetzt aber noch nicht aufnehmen sollte. »Ich bin am Verhungern«, sagte sie und schaute ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Mein Gott, siehst du kaputt
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