Tolle Maenner
Tracie ihm das »Okay«-Zeichen. Hieß das nun, dass es okay war zu lügen oder dass das Mädel okay war oder …
»Ich hab erst letztes Jahr angefangen, aber Klettern ist für mich fast wie... wie eine Lebensphilosophie«, vertraute ihm die Brünette an und beendete auf diese Weise sein moralisches Dilemma.
»Ja«, pflichtete er ihr bei, aalglatt wie sein Vater in seinen besten Tagen. »Ich brauche es wie... die Luft zum Atmen. Ich will allein sein und frei sein, eine schwarze Gestalt vor einem grauen Schieferfelsen.« An der Ecke des Gangs warf er sich in eine James-Dean-Pose. Er hoffte, dass sie es bemerkte, aber nicht durch einen blöden Zufall am Vorabend Jenseits von Eden gesehen hatte.
Offenbar war das nicht der Fall. »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte sie mit wachsender Begeisterung. Dann blinzelte sie und wandte sich ab, als hätte sie es sich anders überlegt. Jon spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Hatte er etwas Falsches gesagt? War er schon wieder dabei, die Sache zu vermasseln, wie es ihm mit der Schönen am Flughafen passiert war? Doch dann drehte sie sich wieder zu ihm um. »Das heißt, eigentlich weiß ich gar nicht genau, was Sie meinen, weil ich noch nie richtig allein geklettert bin, aber ich möchte es gern versuchen. Betreiben Sie technisches Klettern?«
Er wusste nicht einmal, was das war. »Nur«, sagte er. Was soll’s, dachte er sich.
Sie blieb an einem Regal mit Kletterhaken stehen. »Leider braucht man dafür so viel Ausrüstung, und alles ist so teuer. Ich suche einen Fiffihaken und ein paar Copperheads. Benutzen Sie die auch?«
»Aber klar doch. Ich klettere nie ohne«, sagte er. Es war geradezu beängstigend: Je mehr er log, desto leichter schien es ihm zu fallen. War es seinem Vater auch so ergangen?
Das Problem war nur, dass er nicht so war wie sein Vater. Er schaute das Mädchen an und fand sie sehr sympathisch. Na schön, er kletterte zwar nicht, aber immerhin hielt er sich gern im Freien auf; er fuhr überall mit dem Rad hin. Er nahm an, dass sie ebenso umweltbewusst war wie er. Vielleicht war sie nicht unbedingt Vegetarierin – wahrscheinlich brauchte man reichlich tierisches Eiweiß, um einen Berg zu erklimmen -, doch als er sie heimlich musterte, schien es ihm, als wäre sie durchaus die Art Frau, die er kennen lernen und mit der er etwas unternehmen wollte.
»Welche Marken bevorzugen Sie?«, fragte sie.
»Black Diamond«, sagte er und versuchte, sich mit dem Arm möglichst lässig am Regal hinter sich abzustützen. Stattdessen wäre er beinahe gestürzt, aber zum Glück hatte sie das nicht bemerkt, weil sie gerade etwas aus einem der unteren Fächer holte. Jon hatte keine Ahnung, was es war. Es sah aus wie etwas, das sich in einem Folterkeller gut gemacht hätte.
»Und was halten Sie vom Grigri?«, fragte sie. Er erinnerte sich an Tracies Anweisungen, und außerdem wollte er dieses Mädchen berühren. Sie hatte einen ganz ebenmäßigen Teint – eine Art Cremeweiß mit einer Andeutung von Rosa darunter. Auch ihre Lippen waren rosa... dann merkte er, dass sie auf eine Antwort wartete.
»Find ich ganz okay. Natürlich ist es kein Black Diamond, aber …«
Jetzt oder nie, sagte er sich. Du musst sie berühren. Jon nahm ihre Hand, als wollte er die Haken begutachten. »Wow. Haben Sie aber schöne Nagelhäutchen.« Er merkte, wie gut sein Kompliment bei der Brünetten ankam. Sie schaute auf ihre Hände, die er in den seinen hielt, und er glaubte zu sehen, wie sie errötete.
»Finden Sie wirklich? Danke. Ich heiße übrigens Ruth.«
»Übrigens Ruth? Interessanter Name. Wo kommt der her?« Ruth ging zu einer Gruppe von Leuten und stellte sich dazu. Jon reihte sich hinter ihr ein, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen.
»Wissen Sie, ich habe bislang nur einen Fiffihaken von Edelrid«, erklärte sie. Einen Augenblick lang dachte Jon, die ganze Sache sei ein Scherz oder eine von Tracie arrangierte ausgeklügelte Inszenierung. Grigri, Fiffi, Copperhead. War er nun beim Klettern oder im Zirkus? Aber auch wenn er Tracie aus den Augen verloren haben mochte – sein Verstand hatte sich noch nicht verflüchtigt. Dieses Mädchen war begeistert bei der Sache und wirklich süß, und er wollte versuchen, es durchzuziehen. »Ich hoffe, der genügt vorerst«, sagte sie, »weil ich nicht noch einen anderen kaufen möchte.«
Jon schaute zur Schlange an den Kassen. Er musst das Seil und den Gurt wohl kaufen. Er würde es einfach unter den Ausgaben für Garderobe
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