Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
ihnen ankerte ein geradezu gigantisches Luftschiff. Mit armdicken Tauen angebunden hing es bewegungslos in nur wenigen Metern Höhe. Allein die Kabinengondel erstreckte sich über die Breite eines Hauses. Treppen führten jeweils zum Bug und Heck empor. Die Arbeiter, die Säcke und Kisten nach oben schleppten, verrieten, dass die hintere wohl zum Beladen diente. Das war also der Flieger nach Neuanglia?
Kate vergaß die verletzte Hand und die Schmerzen. Fast beschwingt lief sie über den grünen Kokosteppich, wagte sogar, Gustav anzulächeln. Er verzog keine Miene, packte den Handlauf der Einstiegstreppe und blieb stehen.
»Die Reisetasche meines Neffen«, herrschte er ihren Begleiter an. »Sie ist doch hoffentlich bereits an Bord gebracht worden.«
Er hatte wieder diesen harten Akzent, als wäre er ein Ausländer, der die Sprache nicht völlig beherrschte.
Eifrig eilte der Bursche die Gangway hoch, um sich danach zu erkundigen.
Betont langsam folgte Gustav und bedeutete Kate mit einem Kopfnicken, es ihm gleichzutun. Nebeneinander schritten sie die eiserne Treppe empor. Noch bevor sie das Ende erreicht hatten, kam ihr Begleiter zurück. Ein wenig atemlos stieß er hervor: »Die Tasche. In der Kabine, mein Herr. Einen angenehmen Flug wünsche ich.«
Er machte eine Verbeugung und eilte an ihnen vorbei nach unten.
An der Eingangstür zur Flugkabine zeigte Gustav das Reiseticket vor und bellte: »Ich verlange, meinen Neffen in sein Quartier begleiten zu dürfen. Hatte einen üblen Unfall. Waterlons Droschkenkutscher; alles betrunkener Pöbel.«
Der Flugmatrose warf einen Blick auf Kate und winkte einen Kollegen herbei. »Geleite die Herrschaften zur Kabine.«
Der junge Mann dienerte und bat, ihm durch den großen Salon zu folgen. Dies war der Raum, in dem sich die Passagiere tagsüber aufhielten, um dort zu essen, Karten zu spielen, Konversation zu betreiben oder die Aussicht zu genießen. Ein paar von ihnen hatten bereits in den gemütlich aussehenden Sesseln Platz genommen. Drei Ladys unterhielten sich angeregt und schenkten ihnen keinerlei Beachtung. Das ältere Ehepaar am Fenster sah nur kurz auf und widmete sich gleich wieder ihrem Tee. Zwei Familien mit Kindern saßen ein wenig entfernt und ein Herr blätterte in einer Zeitung. Ihre Blicke reichten von mild interessiert bis offen neugierig, aber niemand sprach sie an.
Vergessen war Kates ursprünglicher Wunsch, schnellstmöglich in ihre Kabine verschwinden zu können. Überwältigt bewunderte sie die Einrichtung. Blutrote Brokatvorhänge umrahmten die Panoramafenster und den Teppich zu ihren Füßen zierten goldfarbene Ornamente, mit denen das Wurzelholz der Armstühle und Tische ganz vorzüglich harmonierte.
Viel Zeit blieb ihr allerdings nicht zum Beobachten, denn Gustav bestand darauf, ihre Schlafkabine aufzusuchen.
Der Raum war winzig, beherbergte aber ein bequem aussehendes Bett. Erfreut vernahm sie, dass die Passagiere mit fünf Mahlzeiten im Salon bewirtet wurden.
Gustav wartete, bis der Diener die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Ich verlasse dich jetzt. Sprich nur das Notwendigste und freunde dich mit niemandem an. Am besten bittest du darum, hier speisen zu dürfen, und bleibst im Zimmer. Sei vorsichtig und verrate dich nicht.«
Sie nickte. Natürlich hatte er recht. So sehr sie sich auf den Flug in die Freiheit freute, in diesen drei Tagen gab es nichts Wichtigeres, als die Verkleidung aufrechtzuerhalten.
Gustavs Hand zu ergreifen, wagte sie nicht, so flüsterte sie nur: »Danke. Ich schulde Euch mein Leben.«
Sie suchte nach einer Gefühlsregung in seinem Gesicht. Einem angedeuteten Lächeln, einem Zwinkern. Nichts. Kalt und unfreundlich sah er sie an, als wäre sie ihm bestenfalls gleichgültig. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wischte sie fort. Wortlos drehte er sich um und ging. Sie wollte ihm hinterher, traute sich aber nicht.
Sie hatte gedacht, endlich frei zu sein, würde sich großartig anfühlen. Nun kam sie sich alleingelassen vor.
Eine Weile saß sie auf dem Bett. Schließlich griff sie nach der Tasche, die in der Ecke stand, und sah hinein. Ein Paar Hosen, ein weißes Hemd und eine Weste, Unterwäsche und zwei Paar warme Strümpfe, alles neu. Dazu Waschzeug, Bürste und ein Handtuch, das aussah, als wäre es eins von den guten, die auch Madame benutzte.
Kate erhob sich. An Bord musste es eine Toilette geben und es verlangte sie danach, diese aufzusuchen.
Kaum hatte sie ihr Zimmer verlassen, da fragte ein Herr in
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