Tollkirsche und Korsett: Kates Hunger nach Freiheit (German Edition)
mannshohe Gartentor quietschte laut beim Öffnen. Ängstlich drehte sie sich um. Gustav schnalzte unwillig und scheuchte sie die Straße entlang.
Trotz der Anspannung versuchte sie, ein wenig von der Gegend um sich herum aufzunehmen. All die Jahre hatte sie sich gefragt und gemutmaßt, wie wohl die Umgebung außerhalb ihres Gefängnisses aussehen mochte. Anders als erwartet, stellte sie ein bisschen enttäuscht fest. Keines der umliegenden Häuser besaß die gewaltigen Ausmaße von Madames Anwesen. Wie dieses standen sie ein Stück vom Gehsteig zurückgesetzt, abgeschirmt durch rußige Mauerwände aus zerbröselnden Backsteinen. Verwitterte, abweisende Steinklötze in einer winterlich toten Welt. Gegen die Kälte dick vermummte Menschen warfen ihnen nur flüchtige Blicke zu. Müde und bleich schleppten sie sich an ihr und Gustav vorbei, bemühten sich, Abstand zu halten und nicht auf der Kopfsteinpflasterung auszurutschen.
Ein wenig die Straße hinunter wartete eine Dampfkutsche. Der durchgefroren aussehende Fahrer stand daneben. Eine qualmende Pfeife in der Hand hüpfte er auf und ab, um sich warmzuhalten. Sobald er Gustav sah, eilte er zur Kutschtür, riss sie auf und verbeugte sich. Gustav schenkte ihm keinerlei Beachtung und half Kate beim Einsteigen. Dankbar stützte sie sich auf seinen Arm und sank auf den Sitz.
»Übel verletzt, der junge Herr, was?«, fragte der Fahrer.
»Dampfkutschenunfall«, antwortete Gustav kurz angebunden und fügte beißend hinzu: »Ich hoffe, Ihr fahrt vorsichtiger als Euer betrunkener Kollege gestern. Zum Flugbahnhof.«
Damit knallte er die Tür zu und Kate erblicke einen alten Bekannten. Dieser Löwe, der auf der Türinnenseite prangte. Sie hatte ihn bereits gesehen. Vor vielen Jahren. Auf der Hinfahrt zu Madames Haus.
Der Wagen setzte sich mit Zischen und Hämmern in Bewegung. Angespannt blickte sie aus dem Fenster. Sie kamen tatsächlich vorwärts. Nicht wie im Traum, in dem sie sich auf der Flucht vor Madame trotz aller Anstrengungen keinen Deut von ihr zu entfernen vermochte.
»Warum habt Ihr mich herausgeholt, Master Gustav?«, wagte sie zu fragen.
Statt zu antworten, befahl er: »Erst zudecken.«
Kate nickte. Selbst auf dem kurzen Weg hierher war ihr die schneidende Kälte bis in die Knochen gekrochen. Zwar brachte die Abwärme der Maschine die Kutschenkabine auf eine erträgliche Temperatur, dennoch fror sie, was ihr vermutlich anzusehen war. Sie griff die verschlissene Wolldecke neben sich und drapierte sie ungeschickt über die Beine. Gustav schüttelte den Kopf, nahm sie ihr fort und legte sie ihr um die Schultern.
Er setzte sich wieder.
»All die Arbeit, die ich mir mit dir gemacht habe, sollte nicht verschwendet sein, auch wenn du meine Hilfe wahrhaftig nicht verdient hast.«
Sie senkte beschämt die Augen.
Er fasste in die Westentasche und zog Papiere heraus.
»Dein Flugschein und dein Ausweis. Harold Fein. So lautet dein Name«, sagte er und deutete darauf.
Sie verstand nicht, worauf er hinaus wollte.
»Du fliegst noch heute nach Neuanglia«, fuhr er fort.
Kate klappte der Mund auf.
»Fliegen? Neuanglia?«, entfuhr ihr.
War das nur ein Traum?
Bin
ich im Loch und fantasiere?
»Komm nie zurück. Vergiss alles, was du in Madames Haus gesehen und gehört hast, wenn dir dein Leben lieb ist«, knurrte Gustav sie an.
Seine Worte schienen ihr so unbegreiflich.
»Ein Mädchen in deinem Alter lebt gefährlich in dieser Welt. Du spielst einen jungen Mann, bis du in sicherer Umgebung bist. Nun lies.«
Damit drückte er ihr die Blätter in die Hand.
Auf dem kleineren Zettel klebte das Foto eines noch bartlosen Jünglings. Er trug exakt ihre Kappe und Brille, sogar die Uhr an der Kette war sichtbar. Harold Fein hieß er, und ein Stempel versicherte die Richtigkeit des Ausweisdokumentes.
Sie überflog das zweite Papier und musste die Tränen wegblinzeln. Alles, was Gustav versprochen hatte, stimmte. Harold Fein, der Inhaber dieses Tickets, hatte demnach einen Flug von Waterlon nach Easton, der größten Stadt Neuanglias, gelöst.
Das Datum erstaunte sie. Wenn das der heutige Tag war, dann hatte sie nur zwei Tage im Loch eingesperrt verbracht und nicht mindestens eine Woche, wie sie geschworen hätte.
»Das Ticket, der Ausweis, die Kleidungsstücke, die Uhr«, stieß sie hervor. »Ich verstehe das nicht. Das alles muss immens teuer gewesen sein.«
Schon wieder flossen Tränen. Schnell wischte sie über das Gesicht, damit bloß nichts auf die Dokumente
Weitere Kostenlose Bücher