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Tolstoi, A. K.

Tolstoi, A. K.

Titel: Tolstoi, A. K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Familie des Wurdalak
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sonderbare Nachlässigkeit ersetzt. Ihr jüngst schüchterner Blick hatte jetzt etwas Mutiges. Schließlich bemerkte ich überrascht, dass, wenn sie sich mit mir unterhielt, sie lange nicht so bescheiden war, wie ich sie damals geglaubt hatte.
    Wäre es möglich, dachte ich mir, dass Sdenka nicht mehr die junge, unschuldige und reine Frau ist, die sie damals vor zwei Jahren zu sein schien? Hatte sie diese Maske nur aus Angst vor ihrem Bruder aufgesetzt? Hatte ich mich so schwer von ihrer scheinbaren Tugendhaftigkeit täuschen lassen? Wieso aber sollte sie dann versuchen, mich fortzujagen? War dies vielleicht eine gekonnte Liebäugelei? Und ich glaubte, sie zu kennen! Aber egal! Wenn Sdenka keine Diana war, wie ich glaubte, konnte ich sie gut mit einer anderen Gottheit vergleichen, die nicht weniger liebenswert war und, Gott sei Dank, bevorzuge ich die Rolle des Adonis vor der des Aktaion!

    Wenn Ihr, meine Damen, findet, dass diese Weise mit mir selbst zu reden veraltet sei, dann bedenkt, dass wir uns im Jahre des Herrn 1758 befanden. Die Mythologie war damals an der Tagesordnung und ich versuchte nicht, meiner Zeit voraus zu sein. Die Dinge haben sich seither sehr verändert, und es ist noch nicht lange her, dass die Revolution zur gleichen Zeit wie die christliche Religion die Erinnerungen an das Heidentum ausgelöscht und sie durch die Göttin der Vernunft ersetzt hat. Diese Göttin, meine Damen, war nie meine Schutzpatronin gewesen, wenn ich mich in der Gegenwart der anderen befand und in dieser Zeit, von welcher ich Ihnen erzähle, war ich weniger als jemals bereit, ihr Opfer zu bringen. Ich ließ mich uneingeschränkt von Sdenka einnehmen und verzichtete freudig auf solche Neckereien. Schon einige Zeit war in dieser süßen Traulichkeit vergangen, als ich, mich freudig über Sdenkas ganzen Schmuck unterhaltend, ihr das kleine Emailkreuz, welches ich auf dem Tisch gefunden hatte, um den Hals legen wollte. Bei meiner Bewegung trat Sdenka zitternd zurück.

    „Genug der Albernheiten, mein Freund“, sagte sie mir, „lass den Tand liegen und reden wir über dich und deine Pläne!“

    Sdenkas Sorgen ließen mich nachdenken. Als ich sie aufmerksam beobachtete, bemerkte ich, dass sie nicht mehr wie früher eine Menge kleiner Bildnisse, Reliquienschreine und kleine Säcklein, die mit Weihrauch gefüllt waren, welche die Serben normalerweise von klein auf tragen und erst zu ihrem Tode ablegen, um den Hals trug.

    „Sdenka“, sagte ich zu ihr, „wo sind denn die Bildnisse, die Ihr um den Hals trugt?“
    „Ich habe sie verloren“, sagte sie ungeduldig und wechselte sogleich das Thema.
    Eine unbestimmbare Vorahnung, von welcher ich nichts merkte, bemächtigte sich meiner. Ich wollte gehen, aber Sdenka hielt mich auf.
    „Was?“, fragte sie. „Du hast eine Stunde verlangt und nun gehst du schon nach ein paar Minuten?“
    „Sdenka“, sagte ich, „Ihr hattet Recht zu sagen, ich solle gehen, mir scheint, ich höre Geräusche und ich habe Angst, man könne uns überraschen!“
    „Seid beruhigt, mein Freund, im ganzen Umkreis können nur die Grillen im Gras und die Maikäfer in der Luft hören, was ich dir sagen werde!“
    „Nein, nein, Sdenka, ich muss gehen! ...“
    „Halt, halt“, sagte Sdenka, „ich liebe dich mehr als meine Seele, mehr als mein Heil, du hast mir gesagt, dass dein Leben und dein Blut mir gehören! …“
    „Aber dein Bruder, dein Bruder, Sdenka, ich habe eine Vorahnung, dass er kommen wird!“
    „Beruhige dich, meine Seele, der Wind, der in den Bäumen weht, hat meinen Bruder in den Schlaf gewiegt; sein Schlaf ist tief, die Nacht ist lang und ich verlange nur eine Stunde von dir!“
    Als sie dies sagte, war Sdenka so schön, dass der unbestimmbare Schrecken, den ich verspürte, sich langsam in ein Verlangen wandelte, bei ihr zu bleiben. Eine unmöglich zu beschreibende Mischung aus Angst und Genuss erfüllte mich. Als Sdenka sah, dass ich nachgab, wurde sie zärtlicher, ich nahm mir jedoch vor, wachsam zu bleiben. Da ich immer nur halb anständig war und Sdenka, meine Zurückhaltung bemerkend, mir großzügig ein paar Gläser Wein anbot, um die Kälte der Nacht zu vertreiben, nahm ich mit einem Übereifer an, der sie zum Lächeln brachte. Der Wein wirkte. Ab dem zweiten Glas war der schlechte Eindruck, welchen mir die Umstände des Kreuzes und der Bildnisse zurückgelassen hatten, ganz verschwunden. Sdenkas ungeordnete Kleidung, ihre schönen, nur teilweise geflochtenen Haare und ihre

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